Ihr Lieben,
mit euch gemeinsam möchte ich gerne der besonderen Bedeutung des letzten Satzes eines Gedichtes nachspüren. Welche besondere Kraft der Aussage wird mit ihm in das Gedicht gesetzt?

Ich komme auf die Idee zum Ausstausch, da ich häufiger gerade zum Schluss eines Gedichtes in's Stocken gerate. Vielleicht gut so. Oft erlebe ich es, dass gute Gedichte mich im letzten Satz völlig überraschend in neue Richtungen führen. Ist der letzte Satz vielleicht ein besonderer "Türöffner" für die Interpretation?

Ich freue mich auf eure Beiträge!

Liebe Grüße
Thomas

Lieber Thomas,
vielen Dank für diese Beispiele. Sie verdeutlichen mir welche Tiefe in letzten Sätzen verborgen sein kann.
Ich weiß nicht wie es dir geht, frage mich aber gerade, führt uns nicht erst das Schreiben selbst hin zur Erkenntnis ähnlicher Einsichten, die dann in den abschließenden Sätzen von Gedichten münden? Ich selbst weiß zu Beginn eines Gedichtes meist noch nicht was letzlich seine Quintessenz sein wird.

Wie geht es dir damit?

Liebe Grüße
Thomas

Lieber Sanderling, lieber Thomas,

danke für diese Diskussion, denn den letzten Satz empfinde ich häufig als genauso magisch wie den ersten. Mir geht es wie dir, Sanderling, ich weiß in der Regel in der Mitte eines Gedichtes nicht, wohin es geht. Und bin dann oft bass erstaunt, dass die letzte Zeile den Text doch rundet, denn das genau muss sie für mich tun. Nicht runden im Sinne von abschließen oder beenden, sondern runden in dem Sinn, dass sich eine Beziehung zur ersten Zeile darstellen lässt, also quasi eine Wortumarmung bildet.

Ich finde das Beispiel der Shakespeare- Sonette in sofern nicht ganz passend, da ein Sonett ja ohnehin mit der Synthese der davorstehenden These und Antithese endet. Das bedeutet für mich, dass ein Sonett auch inhaltlich darauf ausgelegt ist, gleichsam eine (Auf)lösung in der letzten Strophe zu finden.

Ich habe mir jetzt einfach wahllos ein Gedicht von Rose Ausländer herausgegriffen:

Der Engel in dir

Der Engel in dir
freut sich über dein
Licht
weint über deine Finsternis.
Aus seinen Flügeln rauschen
Liebesworte
Gedichte Liebkosungen.
Er bewacht
deinen Weg
Lenkt deinen Schritt
engelwärts.

Hier kann man schön sehen - wie ich finde - wie die letzte Zeile mit der ersten korrespondiert und so Himmel und Erde miteinander verbindet.

Was meint ihr dazu? Wie entstehen eure letzten Zeilen? Ich bin gespannt.

Herzliche Grüße

anna a.

Beitrag gelöscht!

Liebe anna,
lieber Sanssouci,
es freut mich sehr, dass auch ihr euch hier an diesem Austausch beteiligt. - Anna, dein Hinweis auf den Zusammenhang von erstem und letzten Satz, fokussiert für mich noch einmal darauf, dass ein Gedicht eingebettet ist. Von Anfang und Ende genauso getragen, wie von jedem anderen Wort und seiner Form. Doch erst ganz am Ende entfaltet alles zusammen seine Kraft.

Sanssouci, dein Beispiel macht mir deutlich, dass auch die Wiederholung ein und der gleichen Zeile, zum Beginn und Schluss, keineswegs das Gleiche aussagt, aber eben ein Stilmittel ist, da es die Aussagen oft noch einmal verdichtet.

Doch wie finde ich den letzten Satz?

Ich möchte darauf am Beispiel eines eigenen Gedichtes antworten, dass ich 2017 nach einem Giftgasangriff in Syrien schrieb.

Im Staub von Chan Schaichun, April 2017

Es schien ein Tag zu sein wie andere,
das Land zerstört, die Sonne, sie geht auf.
Von ferne stelle ich mir vor ich wandere,
durch Schutt und Asche, Weinende zuhauf.
Der Teufel zischt vom Himmel jetzt, wir laufen.
Wohin doch nur, das Atmen fällt schon schwer?
Das Böse und der Tod ohn jed' Verschnaufen,
zerstörte Hoffnung, Angst bis über's Meer,
ganz nah ein totes Kind, - wer hielt die Hand, sag wer? -

Das ganze Verbrechen des Krieges mündet in den letzten Zeilen im Auffinden eines toten Kindes. Durch die abschließende Frage, "wer hielt die Hand, sag wer?" verstärkt sich die Trauer über die vielen Toten. Die Unschuld eines Kindes, dass in diesem Szenarium völlig alleine starb, setzt dazu exemplarisch zum Schluss einen grausamen Akzent, und lässt die Leser dann hilflos zurück.

Für mich stand diese Frage plötzlich da, gewachsen aus dem vorherigen Inhalt, der Beschreibung des Unfassbaren, was jetzt schon so lange grausamer Alltag in Syrien ist.

Liebe Grüße
der Sanderling

Lieber Sanderling

das genau meinte ich damit, dass ein Gedicht auch offen enden kann. Da ein Gedicht immer auch eine Verdichtung unter Umständen komplexer Zusammenhänge darstellt, finde ich es sogar sehr interessant, mit einer Frage zu enden, da sie Raum für Neues lässt.

Liebe Grüße

anna a.

Lieber Thomas,
schön, dass du die Musik erwähnst. Bach z.B., nutze häufig den Trugschluss um seiner Musik nocheinmal eine unerwartete Wende zu geben. Vielleicht lassen sich solche harmonischen Modultationen mit einem besonderen Satz zum Schluss vergleichen, denn die Wirkung überrascht in der Musik wie im guten Gedicht.
Nur ein kurzer Gedanke zu deinen Ausführungen, lieber Thomas.
Liebe Grüße
der Sanderling

Lieber Thomas,

die Moldau von Smetana, der sehr bekannte Teil aus "Mein Vaterland", spricht melodisch wie harmonisch ständig in Bildern zu uns. Seine lyrischen (musikalischen) Naturschilderungen entwickeln sich zur Musik vor unserem Auge und berühren uns. So sind diese Assoziationen während des Hörens sicher vergleichbar mit den Eindrücken, die uns die Metaphern und ihre Abfolge im Gedicht bescheren. Das macht mir gerade noch einmal deutlich, dass nur alles zusammen ein Ganzes ergibt. Hierbei kommt dem letzten Satz nur dann eine besondere Bedeutung zu, wenn das vorherige auch reich an Bildern war und eine gute Geschichte erzählte.

Liebe Grüße
der Sanderling