Durch die Scheibe seh ich ihn, scheinbar im Gespräch vertieft, manchmal lächelnd. Und seine Hände malen Bilder in die Luft. Schöne, schlanke Hände. Ob er wohl Italiener ist? Vor mir ruht der Stau und so warte ich, während ich das stumme Schauspiel hinter Glas verfolge. Durch das Fenster fällt die Sonne goldgelb auf sein braunes Haar. - Nun wirkt er still und aufmerksam, scheinbar hört er zu, sein Gegenüber seh ich aber nicht. Er steht auf, reicht seine Hand zum Abschiedsgruß, verschwindet kurz aus meinem Blick, kommt dann jedoch zurück und stellt sich innen vor das Fenster und schaut raus. Mein Blick trifft offen seine braunen Augen. Er scheint entrückt und ich betrachte mir den Mann in seiner Gänze, wissend, dass er mich im Gegenlicht der Sonne gar nicht sieht. Was ich sehe gefällt mir. Männer genieren sich selten ihrer Blicke.
Ich stell mir vor, wie er mit mir im Kerzenschein beim Lieblings-Italiener sitzt und mir sein Lächeln schenkt. Schon lange ist es her, dass ich mit einem Mann romantisch ausgegangen bin. Vielleicht wär das ein Neuanfang zum Thema Liebe? Als mich das Hupen meines Hintermannes weckt, komm ich erschrocken in die Gänge und erhasche im Vorbeifahren noch ein Schild am Haus des netten Mannes. Giuseppe Bassonie - Bestattungen aller Art.
Ich denke es ist nie zu früh sich um den letzten Weg zu kümmern.
Chapeau, dafür gibt es von mir Sonderapplaus erst noch passend zur Aufgabe und dazu einen erstaunten Leser hinterlassend. Darf ich die kleine Geschichte meinen Leuten in die Gartenlounge legen, vielleicht erwachen sie dann endlich wieder aus Ihrer Lethargie.
ich möchte mich Gabis Sonderapplaus anschließen. Eine Kleinigkeit, in der ersten Zeile wäre es vielleicht besser "Fensterscheibe" statt nur "Scheibe" zu sagen, um gleich klar zu machen, dass es nicht die Scheibe des Autos ist, in dem der Beobachter sitzt.
bei den bisher eingestellen erotischen Gedichten dominierte ja die männliche Sicht. Da wollte ich einmal einen Perspktivwechsel ausprobieren. @Gabi: klar kannst du das auch für den GDP verwenden. @Thomas: die Sache mit dem Fenster klärt sich ja im Verlauf auf, da möchte ich zu Beginn gar nicht mehr erklären.
du hast, wenn ich dich recht verstanden habe, als männlicher Autor aus der Perspektive einer weiblichen Protagonistin deine Geschichte erzählt. Sehr interessant und mutig, wie ich finde… Den Satz: „ Männer genieren sich selten ihrer Blicke.“ kann ich allerdings nicht genau einordnen. Meinst du damit, dass der Italiener die Ich-Erzählerin angeblickt hat? oder etwas anderes?
Herzliche Grüße aus Samothraki, wo es stark stürmt und zwischendurch immer wieder regnet Karlheinz
finde den Perspektivwechsel eigentlich gar nicht mutig, liegt vielleicht an meinem Beruf, da bin ich in Übung.
Die Frau betrachtet den Italiener ganz intensiv und ungeniert, da der sie nicht sehen kann. In dem Zusammenhang reflektiert sie mehr für sich, dass Männer häufig völlig ungeniert schauen. Der Italiener speziell war nicht gemeint.
das ist ja interessant. Die Leser haben gedacht, du erzählst die Geschichte aus der Perspektive einer Frau, ich habe die gesamte Zeit gedacht, du erzählst die Geschichte aus der Sicht eines möglicherweise bisexuellen Mannes. Warum das so ist, weiß ich nicht, aber vielleicht können wir ja mal gemeinsam gucken, was mich dahin gebracht haben könnte.
Der Schluss ist genial - auch im Hinblick auf den etwas zweideutigen Satz, der in mir im Zusammenhang mit dem Bestattungsinstitut auftauchte: „Hier liegen sie richtig…“
Ich liebe solche Alltagsminiaturen, es ist, als würde man sich vor diesen flüchtigen Begegnungen verneigen…
Liebe Grüße und danke, dass du mich auf den Text aufmerksam gemacht hast…
danke für deinen Kommentar zu meiner Alltagsminiatur. Es hat mir viel Spaß gemacht sie zu schreiben. Die Tatsache, dass das Geschlecht des erzählenden Menschen nicht benannt wird, lässt vielleicht deine Zuschreibung über die mögliche sexuelle Orientierung der Person entstehen und öffnet so auch ein Szenario für einen queeren Rahmen. Mir fiel in dem Zusammenhang ein Satz auf, den ich erst durch deinen Kommentar in seiner möglichen Deutungsvielfalt erlebte: "Männer genieren sich selten ihrer Blicke." In meiner Geschichte schrieb ich diesen Gedanken einer Frau zu, ohne dies explizit zu benennen. Da sie sich unbeobachtet wähnte, beobachtete sie den Mann frei, doch fielen ihr dabei Männer ein, die sich ihrer offenen Blicke selten genieren. - Aber klar, es könnte natürlich auch genau umgekehrt sein, dass die Hauptperson ein Mann ist. - Wie schön, wenn unsere Geschichten Freiräume zur Interpretation öffnen, das macht sie doch spannender, oder?
Lieber Sanderling auch von mir erhältst du einen extra Applaus. Ich las die Geschichte und in meiner Fantasie war es eine Geschichte unter Männern. Und ich bin erst durch die Kommentare auf eine Frau als Schreiberin gekommen.
Zitat von Sanderling im Beitrag #1Schon lange ist es her, dass ich mit einem Mann romantisch ausgegangen bin. Vielleicht wär das ein Neuanfang zum Thema Liebe?
Diese beiden Sätze regen die Fantasie an und trotzdem bleibt alles offen. Sehr gekonnt. Ich würde es auch nicht aufklären wollen, ob Mann oder Frau. Es würde die Erotik zerstören. Liebe Grüße Ilona
da bin ich ganz deiner Meinung. Vielleicht wäre das auch einmal eine Idee für eine Glühbirnen-Aufgabe: ein Gedicht aus der Perspektive des anderen Geschlechtes zu schreiben…
schön, dass ihr "Im Stau" nochmal kommentiert habt, Mann und Frau entgeht halt manchmal das eine oder andere. Eure Meinungen belegen, die Vielfalt der Interprätation bleibt gewahrt. Liebe Grüße der Sanderling
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