Wir tauschen Rollen – der Stift und ich. Während ich in seiner Hand vor Aufregung bebe, lehnt er sich gemütlich in meinem Schreibtischstuhl zurück und lässt erst einmal den Blick zum Sonnenuntergang hinter den Hügeln der Eifel schweifen. Diese Aussicht ist neu für ihn, normalerweise liegt ein weißes Stück Papier unmittelbar vor seiner Nase, das erobert werden will. Von seinen Worten. Mit seinen Sätzen. Das ist er gewohnt, das ist ihm vertraut.
Ich spüre einen winzigen Ruck, es scheint loszugehen. Ich genieße diesen Moment, in dem das eigentliche Abenteuer beginnt. In weiten Schwüngen möchte ich über das Blatt tanzen, doch eine plötzliche Bewegung gebietet meinem Enthusiasmus Einhalt. Punkt, sagt er, Punkt. "An dieser Stelle muss ich eindeutig einen Punkt setzen." Ich merke, wie ich ihm zurufen möchte: „Ein Semikolon täte es doch auch!“, doch meine Kehle ist trocken, ich bekomme keinen einzigen Ton heraus.
Stattdessen schreibe ich an anderer Stelle weiter. Absätze zu machen, das ist wichtig, merke ich. Auch ich als Stift habe ein Anrecht auf Pause, auch ich möchte mal nachdenken dürfen. Es tut mir gut, Abstand zu meinem letzten Satz zu bekommen, zumal der nicht aus mir herausfloss, sondern von ihm vorgegeben wurde: MAN SOLLTE IMMER MAL DIE PERSPEKTIVE WECHSELN!
Ach, du Neunmalkluger, denke ich. Sobald du auf meinem Stuhl sitzt, bildest du dir ein, du hättest die Weisheit mit Löffeln gefressen. Ich möchte seine Aussage kommentieren und merke entsetzt, meine Mine ist leer. Ausgeschrieben. Fertig. Ich bange um mein Leben. Ein Stift ohne Mine ist zum Sterben verdammt, zum Tode verurteilt, ich ahne mein Ende und alles in mir wehrt sich.
Am Himmel färben sich die Kondensstreifen der Flugzeuge blass rot. Die Sonne hängt noch orange hinter den Hügeln fest und ich versuche, an bessere Zeiten zu denken. In denen ich prall gefüllt mit Tinte Wort für Wort, Brief nach Brief, Text nach Text verfasste.
"Ablenken ist die Devise, ablenken, um den Mangel nicht zu spüren," versuche ich mir einzureden, um mich nicht endgültig verabschieden zu müssen und womöglich im Müll zu landen.
Als eine Hand nach mir greift, mich in zwei Teile zerlegt, mir behutsam eine neue Mine einlegt, um mich dann wieder zusammenzubauen, verstehe ich, dass mein Stift und ich beste Freunde sind. Trotz Rollentausch!
Inzwischen ist die Sonne fast vollständig untergegangen, nur noch ein schmaler roter Saum leuchtet hinter den Bergen. Und während die Lichter auf der stark befahrenen Bundesstraße am Horizont glitzern, kehren wir beide wieder zu unserem Ursprung zurück. Er -randvoll mit Tinte - und ich um eine Erfahrung reicher.
du bist zu beneiden, um deinen Stift, der zu beneiden ist. Welch schöne Zeit verbringt ihr miteinander! Jetzt, da die Sonne versunken ist, beginnt der Stift zu reimen, denke ich, nur so, weil ihm sein Atemzug es eingibt.
In der Tat sind der Stift und ich best friends, wobei wir durchaus auch heftige Krisen zu meistern haben. Aber keiner von uns beiden gibt auf! Das tut gut und hilft im Alltag..
Liebe Grüße und danke fürs Lesen und Kommentieren.
Liebe anna a. Ich liebe deine Geschichte und hätte gerne mal deinen Stift. Nein, ich gebe zu, seit Jahren tippe ich in den meisten Fällen meine Texte gleich auf den Rechner. Nur im Urlaub habe ich manchmal ein Heft. Deine Art des liebevollen Umgangs mit dem Stift gefällt mir sehr. Liebe Grüße Ilona
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