Es ist Sonntagmittag im Mai 1969 und ich sitze in der Veranda eines Siedlungshäuschens in Berlin- Marienfelde. Hier bei den großen Fenstern mit Blick in den Garten ist gerade mal Platz für einen Tisch, eine Eckbank, zwei Stühle und einen verschlissenen Sessel vor einem großen, alten Radio. Auf ihm saß ich bis zum Mittagessen und hörte die Suchmeldungen des Deutschen Roten Kreuzes. „Die 60jährige Martha Silberstern sucht ihren 32jährigen Sohn Hans. Zuletzt gesehen hat sie ihn in Halle. Von dort aus fuhr er nach Russland zu seiner Einheit bei der Artillerie. Kennt jemand diesen blonden, 1,80 m großen Mann mit einem Leberfleck unterhalb des rechten Schlüsselbeines?“
Jetzt habe ich jedoch den Platz gewechselt und sitze am Tisch, denn meine Mutter hat uns zum Essen gerufen. Hoffnungsfroh schiele ich auf das Treveris Glas links neben mir auf dem Platz meines Vaters. Es handelt sich dabei um ein zierliches, mundgeblasenes Weinglas, das nicht nur wir, sondern auch meine Großeltern, meine Tanten und Onkels und meine beiden Großtanten, zwei ältliche Frolleins, benutzen. Das Glas ist also quasi unser Familienglas.
Doch ich schiele nicht deshalb nach ihm. Ich schiele danach, weil mir mein Vater versprochen hat, dass auch ich Wein trinken darf, wenn ich nur fest genug an dem gläsernen Fuß des Glases ziehen würde. Dann könnte ich den edlen Tropfen durch den Stiel hindurch nach unten saugen, wo genau die richtige Menge für ein achtjähriges Mädchen wie mich ankäme. „Schließlich bist du noch nicht erwachsen und darfst deshalb nicht so viel Wein wie wir trinken. Aus diesem Grund trinken Kinder nämlich niemals aus dem Glas selbst, sondern ausschließlich über den Fuß.“
Jeden Sonntag hoffe ich aufs Neue, warte darauf, dass Vater den Wein einschenkt, greife zu dem zierlichen Glas, umschließe behutsam mit meinen Lippen seinen Fuß und beginne daran zu nuckeln. Doch unabhängig von meiner Anstrengung bleibt es dabei, dass ich zwar seine Kühle in meinem Mund spüre, aber kein Tropfen fließt. Erschwerend kommt hinzu, dass ich Angst habe, das Glas mit meinen Zähnen zu zerbrechen und mit lauter Splittern im Mund statt mit Wein zu enden.
Sonntag für Sonntag spüre ich diese Enttäuschung darüber, dass ich wieder nur Saft statt Wein bekomme bis mich eines Tages der Verdacht beschleicht, dass mein Vater mich in die Irre geführt haben könnte und man gar nicht aus einem Glasfuß trinken kann. Konnte es sein, dass mein Vater mich belügt? Heute trinken wir immer noch aus Treveris – Gläsern. Auf dem Flohmarkt habe ich stolz acht Gläser günstig kaufen können, den Rest habe ich von meinen Eltern geschenkt bekommen.
Wenn wir bei der weit verstreuten Familie eingeladen sind, kann ich mich darauf verlassen, dass irgendwann dieses Treveris- Glas auf dem Tisch erscheint. Es steht für Tradition, für Trier, wo meine Großmutter, adoptiert von ihrer Tante, einen Teil ihrer Kindheit verbracht hat, wo die Familie meines Vaters nach der Flucht aus Pommern bei meinem Urgroßvater Zuflucht fand und wo sich unsere Familiengruft an den Mauern des Nordfriedhofes befindet.
Wenn ich das Glas, das 1885 entworfen wurde und einen manuellen Schliff von 22 Kreuzkerben aufweist, zum Trinken erhebe, schiele ich bis heute auf seinen Fuß und denke, wie schön, wäre es damals gewesen, wenn…
Wer sagt euch eigentlich, dass das mein Vater war und die Geschichte nicht frei erfunden ist? Ich habe es lediglich aus der Ich - Perspektive geschrieben und es soll Teil eines Familienromanes werden...
Wir hoffen, dass dir unser Forum gefällt und du dich hier genauso wohlfühlst wie wir.
Wenn du uns bei der Erhaltung des Forums unterstützen möchtest, kannst du mit Hilfe einer kleinen Spende dazu beitragen,
den weiteren Betrieb zu finanzieren.
Deine Spende hilft!
Spendenziel: 144€
35%
Forum online seit 10.11.2013 Design by Gabriella Dietrich