Und wieder kauere ich gichtgepeinigt mit einem Kissen auf der Bank im Garten unter dem Kirschbaum. Ich starre auf das Gurkenglas in meinen Händen worin das Einzige liegt, was mir von dir geblieben ist: Deine letzte Gebissprothese. Sie liegt in Einzelteilen da drin. Du hattest sie an einem kleinen Holzscheit zerbissen und zerbrochen, als man dir damals das rechte Raucher-Bein unterhalb des Knies absägte. Ohne Narkose. Ich sehe noch heute die Tränen über deine verschwollenen Augensäcke sprudeln.
Erinnerungen an unsere ersten Wochen steigen in meinen Gedanken auf wie die Luftblasen meiner Furze in der Badewanne.
Ich denke an jenen wolkigen Tag im Frühling, als wir händchenhaltend die Kirschbaumallee nahe der Irrenanstalt Steinhof auf und ab marschierten. Deine Stimme hatte einen eigenartigen Unterton angenommen, deine Zunge schnalzte und deine Zähne klapperten, während du von den Kirschblüten schwärmtest. Deine Augen leuchteten wie 25-Watt Lampen, als du dich mir zuwandtest: „Vögelchen, wir werden unseren eigenen Kleingarten haben und ein Baum wird in der Mitte stehen: Ein riesiger Kirschbaum. Wir werden jedes Jahr darunter sitzen und die Kirschblüten auf uns rieseln lassen!“
Wo zum Henker nehmen wir einen riesigen Kirschbaum her? Mitten im Kleingarten sollte der gepflanzt werden? Wo sollte das geplante Häuschen stehen? Ich schüttelte innerlich den Kopf und ließ dich meine Zweifel nicht spüren.
Kurz nachdem wir geheiratet hatten, schlepptest du mich in diese Großgärtnerei in der Nähe von Krems: Dort stand er, der Kirschbaum, in einem riesigen schwarzen Plastiktopf.
„Der Baum ist 25 Jahre alt!“ versicherte uns der Besitzer der Pflanzerei.“
Wir kauften den Baum um 65.000 Schillinge. Ich hatte kalte Schweissperlen am ganzen Körper. 50 Jahre lange verzichteten wir deswegen auf das Haus im Kleingarten, den wir damals als Hochzeitsgeschenk von meinen Eltern bekommen hatten. Das einzige Möbelstück war eine alte Heurigenbank ohne Rückenlehne unter dem Baum. Ich war von der mehrmals betrunken nach hinten gefallen. Ja - und unser altes Campingzelt mit den zwei Schlafsäcken stand links hinten am Zaun.
Man konnte tatsächlich nur einige Tage im Frühling unter dem Baum sitzen. Dann lagen die Blüten alle im Gras. Die Kirschen waren schwarz, klein und zuckersüß. Die meisten fraßen die Vögel auf und wir stapften immer wieder darauf herum. Einen Teil ernteten wir. Noch heute denke ich mit Schadenfreude daran zurück, als du mal beim Äste absägen vom Baum gefallen warst und Splitterbrüche an beiden Beinen davontrugst. Es war mir eine Genugtuung für die Scheiße, die du jahrelang mit dieser Maria Kali getrieben hattest. Die Zeit hat auch das aus meinem Hirn gefegt. Aber nur fast.
Seitdem sind fünfzig Frühlinge gekommen und gegangen. Du hattest dich im vorigen Jahr etwa um diese Zeit an dem Kirschbaum erhängt. Mensch war das ein Aufruhr rundherum. Sogar die Kriminalpolizei und ein Forensiker schnüffelten drei Tage lang herum.
Ich blicke zum Himmel empor. Er ist nicht blau, sondern rötlich von der absaufenden Abendsonne. Wirkt irgendwie als wären Himmel und Hölle verschmolzen.
Ich frage mich ob es tatsächlich ein Leben nach dem Tod gibt, wie uns das die Religionen einreden möchten. Ich hoffe nur eines: Dass ich nicht dort – wo immer das ist – in dich hineinlaufe und womöglich derselbe Scheiß nochmal von vorne beginnt.
Ich ertappe mich bei einem leisen Selbstgespräch: „Fünfzig Jahre waren fünfzig Jahre zu viel. Ich hätte damals doch diesen Ralfchen heiraten sollen. Der Typ sah aus wie ein junger Gott!“
Jetzt würde der garantiert auch schon lange auf mich gepfiffen haben. Der tummelt sich seit Jahren mit jungen Huren im Bett rum.
Ja - es war damals ziemlich schwer für mich, dich bewußtlos mit der Schlinge um den Hals an diesem Ast hochzuziehen. Na ja, die Nacht ist die Verbündete finsterer Taten.
Eine weiße Blüte fällt auf das Gurkenglas mit deiner Gebissprothese.
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