Das letzte Schweigen

Die Tage werden kürzer und die Nacht
senkt schweigend ihren Vorhang nieder.
Im Dämmerlicht des Krankenzimmers wacht
er neben ihr auch heute wieder.

Die Augen sind geschlossen, leicht der Mund
geöffnet, trotz Apparaturen,
ihr Haar erscheint ihm heute müder und
ein wenig schmaler die Konturen,

die ihr Gesicht ins weiße Kissen malt.
Zitronenwasser aus der Schale
benetzt nun ihre Lippen, da erstrahlt
Sizilien ihm mit einem Male,

ihr Urlaub, damals ganz spontan. Sie liest
Gedichte, die zur Landschaft passen,
und in den Zauber ihrer Stimme fließt,
was Worte nicht, nur Lieder fassen.

Wie gerne würde er sie heute fragen,
was sie zu der Novelle meint,
die er geschrieben, in den letzten Tagen…
Der Duft! Auch sie denkt, wie ihm scheint

an jenen Urlaub. – Ach! die Phantasie
malt falsche Bilder und Gestalten.
Es wurde gestern doch beschlossen, die
Geräte schließlich abzuschalten.

Seit Wochen bangt und hofft ein junger Mann,
dass er mit ihrem Herzen leben kann.



© Ralf Schauerhammer



P.S.: Angeregt durch anna a.

Liebe Heidi,

wenn man so offen und ehrlich schreibt, wie du es gerade getan hast, dann kann es nichts Falsches sein. Vielen Dank.

Liebe Grüße
Thomas

Liebe anna,

im Grunde ist doch die Idee von dir, was ich getan habe, ist doch nur Handwerk. Deswegen an dich, vielen Dank.

Liebe Grüße
Thomas

Liebe Heike, lieber Hans,

vielen Dank. Über das sachliche "heute" denke ich nach. Das "schließlich" soll den langen Entscheidungsprozess andeuten, was aber auch durch die "Wochen" in der nächsten Zeile deutlich würde. Mals sehen. Auf jeden Fall danke ich dir für die Anregung.

Liebe Grüße
Thomas

Liebe Clara und Heliane,

herzlichen Dank für euer großes Lob. Ich möchte nun doch etwas genauer erklären, was der Anteil von anna a. an diesem Gedicht ist. Sie hat mir nämlich einen kurzen Text zugeschickt, der ihr beim Lesen eines Gedichtes einfiel und hat mich aufgefordert, diesen in Form eines passenden Gedichtes zu schreiben. Ihr Text war also die Vorgabe. Das habe ich dann mit Freude getan. Ich füge mit annas Erlaubnis nun den Text an - erst jetzt, da ich sie dazu überreden musste.

Liebe Grüße
Thomas


Das letzte Schweigen

Friedlich lag sie in ihrem Bett, die Augen geschlossen, den Mund leicht geöffnet. Bei genauer Betrachtung hob und senkte sich der Brustkorb ganz sanft, kaum wahrnehmbar in dem Dämmerlicht der frühen Abendstunde. Es wird wieder früher dunkel, dachte er und schauderte ein wenig.

Ihr Haar hatte sie seit drei Jahren nicht mehr färben lassen, die Locken waren im Laufe ihres Lebens müde geworden und bildeten nur noch andeutungsweise einen silbergrauen Rahmen für ihr schmales eingefallenes Gesicht. Ihre Augen ließen keinen Blick mehr zu, das gelegentliche Aufblitzen in ihrem Braun war erloschen.

Er griff zu der Schale mit dem Zitronenwasser, tunkte ein weiße Kompresse hinein, drückte sie aus und benetzte vorsichtig ihre spröden Lippen. Der Zitronenduft erinnerte ihn an ihre Ausflüge nach Sizilien, früher, als sie noch leicht und unbeschwert waren, als sie sich spontan ins Auto setzten und losfuhren gen Süden, immer der Sonne entgegen. Er liebte es, wenn sie ihm ihre Gedichte während der Fahrt vorlas, nicht eins nach dem anderen, sondern immer mit vielen Pausen dazwischen. Sie hatte ein gutes Gespür, wann sich welche Worte in die Landschaft fügten. So verbanden sich seine Eindrücke während der Reise mit dem Klang ihrer Stimme und ihrer Zeilen zu einem neuen Lied, dem er nicht widerstehen konnte.

Täuschte er sich oder huschte ein leichtes Lächeln über ihr Gesicht? Hatte sie vielleicht dieselben Gedanken wie er – ausgelöst nur durch den Duft der Zitronen? Er seufzte. Wie einem doch die Phantasie manchmal einen Streich im Leben spielte.

Wie gerne hätte er sich mit ihr noch über die letzten Zeilen seines neuen Romans unterhalten, er gab viel auf ihr Urteil und erst, wenn sie mit dem Text zufrieden war, konnte er ihn an seinen Lektor weiterreichen. Sie war seine Wortfrau, von Anfang an hatte sie ihn mit ihrer Sprachmelodie eingefangen und verzaubert. Doch nun war es zu spät. Gemeinsam mit den Kindern hatten sie die Entscheidung gefällt die Geräte abzustellen. Der Hirntod stand fest. Unwiderruflich. Und irgendwo wartete ein 35jähriger Mann auf ein Herz, auf ihr Herz, um ein neues Leben dort hineinzuschreiben.

Liebe anna,

bei der Frage, warum der Text wirkt, ist mir aufgefallen, dass deine Geschichte etwas enthält, was in dem zugrundeliegenden Gedicht nicht vorhanden ist, nämlich das Todes-Schweigen. Es ist deine kreative Leistung, dieses neue Element mit dem durch das Gedicht Gegebene zu verbinden (d.h. ein Synthese zu schaffen), welche (wie ich Glaube auch ohne explizite Kenntnis des ursprünglichen Gedichtes) die Wirkung des Textes und des "Nach-Gedichtes" hervorruft.

Liebe Grüße
Thomas

Liebe anna,

möglich ist viel, aber gute Gedichte sind auch sehr präzise, und wenn ich Marschas Gedicht z.B. neben Goethes "Über allen Gipfeln ist Ruh" stelle, dann ist bei ihr doch das in die Zukunft weisende Element nicht vorhanden.

Liebe Grüße
Thomas