Vor grauen Jahren lebt' ein Mann in Osten, Der einen Ring von unschätzbarem Wert Aus lieber Hand besaß. Der Stein war ein Opal, der hundert schöne Farben spielte, Und hatte die geheime Kraft, vor Gott Und Menschen angenehm zu machen, wer In dieser Zuversicht ihn trug. Was Wunder, Dass ihn der Mann in Osten darum nie Vom Finger ließ; und die Verfügung traf, Auf ewig ihn bei seinem Hause zu Erhalten? Nämlich so. Er ließ den Ring Von seinen Söhnen dem geliebtesten; Und setzte fest, dass dieser wiederum Den Ring von seinen Söhnen dem vermache, Der ihm der liebste sei; und stets der liebste, Ohn' Ansehn der Geburt, in Kraft allein Des Rings, das Haupt, der Fürst des Hauses werde.
Beginn der "Ringparabel" aus "Nathan der Weise" von Gotthold Ephraim Lessing, veröffentlicht 1779.
Heraus in eure Schatten, rege Wipfel Des alten heil’gen, dichtbelaubten Haines, Wie in der Göttin stilles Heiligtum, Tret ich noch jetzt mit schauderndem Gefühl, Als wenn ich sie zum ersten Mal beträte, Und es gewöhnt sich nicht mein Geist hierher…
Iphigenie auf Tauris von Johann Wolfgang Goethe
O, könnte die Beredsamkeit von allen Den Tausenden, die dieser großen Stunde Teilhaftig sind, auf meinen Lippen schweben, Den Strahl, den ich in diesen Augen merke, Zur Flamme zu erheben! Geben Sie Die unnatürliche Vergöttrung auf, Die uns vernichtet! Werden Sie uns Muster Des Ewigen und Wahren! Niemals – niemals Besaß ein Sterblicher so viel, so göttlich Es zu gebrauchen. Alle Könige Europens huldigen dem spanischen Namen. Gehn Sie Europens Königen voran. Ein Federzug von dieser Hand, und neu Erschaffen wird die Erde. Geben Sie Gedankenfreiheit. –
Marquis von Posa zu König Philipp in "Don Carlos" von Friedrich Schiller
Der Blankvers besteht aus Zeilen im fünfhebigen Jambus, er ist reimlos. Kadenzen können flexibel gesetzt werden, was ihm in Verbindung mit Enjambements sehr wandlungsfähig macht. Das zeigen die drei einleitenden Beispiele: In Lessings "Nathan" fließt er episch erzählen, in Goethes "Iphigenie" klingt er lyrisch erhaben und in Schillers "Don Carlos" wirkt er spannungsreich, fast stoßend, dynamisch.
Nach Deutschland kam der Blankvers aus England, wo er von Christopher Marlowe und vor allem von Shakespeare verwendet wurde. Für die Aufnahme in Deutschland war Lessings "Nathan" entscheidend und wirke wie eine Initialzündung. Goethe schrieb seine bereits in Prosa fertige "Iphigenie" in ein Blankvers-Drama um und Schiller seinen "Don Carlos". Das hatte sicher damit zu tun, dass Goethe und Schiller große Verehrer Shakespeares waren. Schiller wollte ursprünglich Oden-Dichter werden und wurde durch Shakespeare zum Dramatiker, und Goethes Hochachtung für Shakespeare wird in verschieden seiner Schriften, z.B. seiner Rede zum Shakespeare-Jahr deutlich.
Über die Verehrung von Shakespeare hinaus, sahen sie einen tiefen ästhetischen Grund für die Verwendung des Blankverses, welche in einem Brief von Schiller an Goethe vom 24.November 1797 zum Ausdruck kommt: "Seitdem ich meine prosaische Sprache in eine poetisch-rhythmische verwandle, befinde ich mich unter einer ganz anderen Gerichtsbarkeit als vorher;… Man sollte wirklich alles, was sich über das Gemeine erheben muss, in Versen, wenigstens anfänglich, konzipieren, denn das Platte kommt nirgends so ans Licht, als wenn es in gebundener Schreibart ausgesprochen wird... Der Rhythmus leistet bei einer dramatischen Produktion noch dieses Große und Bedeutende, dass er, indem er alle Charaktere und alle Situationen nach einem Gesetz behandelt und sie, trotz ihres inneren Unterschiedes, in einer Form ausführt, dadurch den Dichter und seinen Leser nötigt, von allem noch so charakteristisch Verschiedenen etwas Allgemeines, rein Menschliches zu verlangen."
Besonders interessant finde ich an diesem Zitat, der Dichter solle "alles, was sich über das Gemeine erheben muss,.. in Versen konzipieren," um das "Platte" zu eliminieren. Für heutige Autoren, könnte der Blankvers somit als ein Filter dienen, der das Platte aus ihren Stücken zu entfernen, falls dieses überhaupt gewünscht ist.
Wir hoffen, dass dir unser Forum gefällt und du dich hier genauso wohlfühlst wie wir.
Wenn du uns bei der Erhaltung des Forums unterstützen möchtest, kannst du mit Hilfe einer kleinen Spende dazu beitragen,
den weiteren Betrieb zu finanzieren.
Deine Spende hilft!
Spendenziel: 144€
35%
Forum online seit 10.11.2013 Design by Gabriella Dietrich