Ich lerne schwimmen. Endlich. Im Stadtbad Steglitz, einem Schwimmbad, das am 8. Juli 1908 als Preußens modernste und größte Heil-und Bäderabteilung eröffnet wurde und neben dem Schwimmbecken zahlreiche Räume zum Baden und Duschen für die damalige Bevölkerung enthielt. Das hat mich nachhaltig beeindruckt, denn wir hatten Gott sei Dank eine eigene Badewanne zu Hause und ich begriff, dass das vor, aber auch nach dem Krieg durchaus nicht selbstverständlich war.
Das im Jugendstil erbaute Bad mit seiner riesigen Kuppel (https://www.rbb888.de/themen/bauzombies-...d-steglitz.html) und einer Balustrade mit einem Geländer aus schmiedeeisernen Ornamenten, hinter denen sich Umkleidekabinen befanden, erinnerte mich mehr an eine Kirche als an ein Schwimmbad. Das Ende des Schwimmerbeckens war wie das Ende eines Kirchenschiffes abgerundet und mit einem Geländer abgesichert. Wir verließen das Wasser über Metallleitern, aber erst, wenn Herr Haack, unser Schwimmlehrer, ein älterer Mann mit schütterem grauen Haar, das er quer über seine Glatze kämmte, zufrieden mit unserer Leistung war.
Sobald wir Kinder im Wasser waren, fuchtelte er mit einem langen Bambusstab, an dessen Ende eine Schlaufe befestigt war, vor unserer Nase herum. Wollten wir danach greifen, weil wir Angst hatten zu ertrinken, zog er ihn blitzschnell gerade so weit weg, dass wir ihn nicht mehr zu fassen bekamen. „Los, strengt euch an! Weiter! Weiter! Nicht schlapp machen!“ Mir war, als würden seine Befehle hundertfach als Echo von der Decke zurück ins Becken plumpsen, um mich noch mehr zu quälen und so strampelte ich und strampelte, bis ich sicher den Beckenrand erreicht hatte und mich halb am Wasser verschluckend, kurz Pause machen konnte, bevor Herr Haack mich erneut durchs Wasser trieb.
Bibbernd vor Kälte verließen wir schließlich am Ende des Unterrichts das Wasser, kauerten uns in einem Halbkreis um den Meister und riefen gemeinsam mit ihm unseren Schlachtruf in die leere Halle: „Zicke, Zacke, Zicke, Zacke, Hoi, Hoi, Hoi!“ Dann huschte kurz ein Lächeln über das Gesicht des Herrn, bevor er uns mit leicht krächzender Stimme bis zur nächsten Woche entließ.
Seit 2002 schwimmt keiner mehr im Steglitzer Stadtbad in der Bergstrasse. Das Gebäude steht inzwischen unter Denkmalschutz. Ideen für eine mögliche andere Nutzung gab es, keine wurde jedoch weiterverfolgt. Ich bin seitdem eine leidenschaftliche Schwimmerin und immer, wenn sich die Gelegenheit bietet, gehe ich auch in mir unbekannte Schwimmbäder. Am allerliebsten jedoch bin ich in historischen Bädern wie in dem Gellert Bad in Budapest, denn dort, wo sich Geschichte, Kunst und Wasser treffen, fühle ich mich seltsamerweise zu Hause. Vielleicht liegt es daran, dass ich im Stadtbad Steglitz meinen Freischwimmer absolvierte - die erste erfolgreiche Prüfung meines Lebens - vielleicht liegt es aber auch daran, dass Schwimmen für mich dort trotz aller Strapazen durch die Architektur des Bades zu etwas Heiligem wurde.
Anmerkung: Der November ist immer ein Monat, in dem ich mich täglich einem Schreibprojekt zu widmen versuchen. Dieses Jahr möchte ich an einem Memoir über mein Leben schreiben, das ich "lost places" nenne. Anhand der zahlreichen Plätze und Strassen, die ich in meinem Leben kennengelernt haben, versuche ich, mich meinen Erinnerungen zu nähern. Obiger Text ist ein kleiner Auszug daraus.
das ist eine schöne Idee, welche zu einem Büchlein, möglichst mit Bildern aus der Zeit, führen sollte. So locker, wie du es schreibst, regt es zum lesen an und macht Spaß. Ich kann mir den Schwimmlehrer gut vorstellen.
Ich habe übrigens auf eine seltsame Art schwimmen gelernt, welche meine Eltern nicht wissen sollten und mir zeigte, dass die Sache rein psychisch ist. In einem Pfadfinderlager war der Bach nach einem Gewitter an eine Stelle mächtig angeschwollen. Einige sprangen ins Wasser und schwammen hin und her. Ich konnte damals noch nicht schwimmen, aber der Bach reizte mich so sehr, dass ich auch hineinsprang. Von diesem Augenblick an konnte ich schwimmen. Freischwimmer, Fahrtenschwimmer und später Rettungsschwimmer (heute würde ich mich nicht mehr trauen) habe ich danach aber ganz ordentlich im Freibad gemacht.
lost Places gibt es jede Menge, in den meisten Fällen völlig lost und nur noch in der Erinnerung aufsuchbar…
Meine ersten Schwimmversuche unternahm ich in der Lahn, also im fließenden Gewässer. Im sog. Kästchen, einem durch Hölzer abgetrennten Nichtschwimmerbereich, übte ich mit einer sog. Schwimmbüchse oder auch einer Korkweste im Sommer das Schwimmen, im Winter geschah das im Volksbad von Gießen. Dieses wunderschöne Jugendstilbad mit Wannenbädern und Duschen fiel anfangs der 60er Jahre dem Bauwahn zum Opfer…
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