Im Radio läuft gerade eine Instrumental - Version von Autumn leaves, jenem Lied, das mich schon lange begleitet. Seitdem ich es am Bett eines jungen Wachkoma-Patienten gesummt habe, wieder und wieder, weil mich sein Schicksal berührt hat, weil ich es nicht fassen konnte, wie er einfach vom Himmel gestürzt ist – eine Woche nach seiner Hochzeit. Mit dem Gleitschirm, seiner großen Liebe.
Seine junge Frau besucht ihn jeden Tag und erzählt mir, dass er das Lied liebt. Autumn leaves. Sie fragt sich immer wieder, was wäre, wenn…. wenn er nicht abgehoben hätte in die Luft, wenn er den richtigen Strömungskanal erwischt hätte? Wenn er zu Hause geblieben wäre, in ihren Armen, an jenem Tag. Jener junge, talentierte, sportliche, leidenschaftliche Mann, jener Mann mit dem scharfkantigen Kinn und den Locken, die sein leeres Gesicht weich umspielen.
Ja, was wäre, wenn es den Konjunktiv nicht gäbe? Die Welt wäre unendlich viel ärmer, denn erst mit ihm kommen unzählige Möglichkeiten, die wir durchspielen können, um der Wirklichkeit Improvisationsvorlagen zu schenken. Wir könnten nicht Tagträumen ohne Konjunktiv, nichts wäre, nichts dürfte, nichts könnte anders sein als es ist. Erst der Konjunktiv macht es möglich, das wird mir jetzt bewusst, indem ich darüber schreibe. Und ich begreife, warum ich diese grammatikalische Form so geliebt habe und liebe. Sie ist ein sprachliches Ausweichmanöver, sie lässt uns ungeahnte Wege gehen. Hand in Hand mit der Fantasie bringt sie Farbe in unser Leben. Sie ist das Salz in der Suppe, das Leuchten am grauen Himmel, das Pochen im Dunkel der Nacht. Ich brauche sie, diese Möglichkeitsform, wie die Luft zum Atmen, besonders in diesem Herbstgrau.
Im Radio ertönt längst ein anderes Lied, irgendein Trompetensolo voller Melancholie. Ich lehne mich zurück, schließe die Augen und denke, was wäre, wenn….
Liebe anna, eine berührende Geschichte. Die Tatsache, dass du direkt mit dem tragische Ende eines jungen Lebens beginnst, schubst mich als Leser spontan in die Geschichte. Sie ist dir gut gelungen und liest sich wie Butter, die sich auf einem noch warmen Toast leicht verstreichen lässt.
Mir zeigt die Frage nach dem Konjunktiv auch auf, wie wertvoll der Moment ist, da er konkret stattfindet,... wie auch immer Sekunden später seine Wendungen verlaufen werden.
Den Konjunktiv noch einmal beim Namen zu nennen, als Form der Möglichkeiten, berührt für mich den Kern menschlichen Daseins und deiner Geschichte. Nämlich die Frage: was will ich in und mit meinem Leben tun? -
Am Rand des Bettes eines Menschen zu sitzen und Beistand zu leisten, ist dabei eine aussagekräftige, mögliche Antwort auf diese Frage.
vielen Dank für euren Kommentar und euer deutliches Bekenntnis zur Bedeutung des Konjunktives. Lasst ihn uns erhalten für die Welt, denn sonst gingen Möglichkeiten verloren, die uns sicherlich fehlten.
Ich wusste übrigens gar nicht, dass Konjunktiv übersetzt Möglichkeitsform heißt. Und das Bild mit der zerlaufenden Butter fand ich toll, lieber Sanderling, denn genau so habe ich mich beim Schreiben gefühlt. Wohlig, warm und weich...
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