Gestern hatten sie noch miteinander gespielt und heute war Anna tot. Mausetot hatte die Mutter gesagt und sich die Tränen mit einem Taschentuch abgewischt. Heiner konnte das nicht ganz verstehen, was hatte der Tod mit Mäusen zu tun ? Tote Mäuse hatte er schon gesehen. Spitzmäuse, welche die Katze von Herrn Wasel im Hof liegen gelassen hatte. Mäuse ohne Kopf. War das mausetot ? Am liebsten hätte er nachgefragt, sich dann aber doch nicht getraut. Sah Anna jetzt wie eine tote Maus aus ? Gewiss, sie hatte ein kleines spitzes Gesicht gehabt, fast wie ein Mäuschen und manchmal hatte ihre Mutter sie auch Mäuschen gerufen. Jetzt rief sie keiner mehr. Die Polizei war auch schon im Haus gewesen, hatte an alle Türen geklopft und alle Leute im Haus gefragt, ob sie etwas über Anna und ihre Mutter erzählen konnten. Sie hätten ihn fragen sollen, aber Anna hatte ja gesagt, er dürfe es nicht weitererzählen. Das war nämlich ein Geheimnis und Geheimnisse durfte man nicht weitererzählen, hatte Anna gesagt. Aber jetzt war Anna tot. So ähnlich wie die Spitzmäuse auf dem Hof. Wie ist das eigentlich wenn man tot ist, fragte er sich und stieß mit dem Fuß eine Blechbüchse vor sich her. Gestern noch hatte Anna mit ihm hier gestanden, sie waren über den Hof gerannt und hatten gespielt, sie würden mit einem schnellen Auto über die Autobahn flitzen. Anna hatte sogar laut gelacht und das war schon etwas Besonders. Das war schön, dass Anna gelacht hatte. Ein bisschen hatte er sich wie der große Bruder von Anna gefühlt, obwohl seine Mutter gesagt hatte, dass sie gleich alt wären. Aber Anna war viel kleiner und konnte auch nicht so gut sprechen wie er. Er hatte sie immer verstanden, besser als die Erwachsenen. Seine Mutter hatte Anna fast gar nicht verstanden und sie mochte auch nicht, dass beide miteinander spielten. Schade dass das jetzt vorbei war, er hätte jetzt gerne ihre kleinen Hände in die seinen genommen. Anna hätte ihm dann sicher wieder von den Sachen erzählt von dem sonst keiner was wusste. Vor dem neuen Papi hatte sie Angst gehabt. Den konnte sie nicht leiden, weil er so groß und so laut war und weil Anna immer auf den Hof musste wenn er kam. Oder sie musste vor dem Fernseher sitzen bleiben und ihre Mutter ist dann immer so müde geworden und musste sich ins Bett legen und der neue Papi ist dann immer mitgegangen. Anna mochte das gar nicht wenn er kam. Da ist sie lieber nach unten auf den Hof gegangen. Dann hat sie unten auf der Bank bei den Spielgeräten gesessen und hat auf ihn gewartet. Er konnte das vom Nachbarhaus immer gut sehen. Hunger hatte Anna auch immer gehabt, er hatte das auch seiner Mutter erzählt, aber die Mutter hatte es wohl gar nicht verstanden. Wir mischen uns da besser nicht ein, hatte sie gesagt. Er seufzte und ging hinüber zu der Bank bei den Spielgeräten. Er sah gerade noch, wie Annas Mutter in Begleitung von zwei Polizisten das Haus verlies und sich in das Polizeiauto setzen musste.
mir gefällt, wie du im Laufe der Geschichte vage Andeutungen machst, so dass ich, der Lesern neugierig werde, wie es wohl weitergeht. Der Schluss kommt dann unaufgeregt und nüchtern, so wie Kinder das wohl sehen würden.
In deiner Geschichte steckt sehr viel Realität und sie macht betroffen. Der Satz: "Wir mischen uns da besser nicht ein", sagt alles.
welch schreckliches Ereigniss erzählst du mir vor dem Frühstück? Schlimm, dass sowas allmählich zum Alltag gehört und kaum mehr zur Kenntnis genommen wird.
Das Geschehen liest sich wie durch eine Nebelwand betrachtet, unwirklich, wie die trockene Berichterstattung in den Medien, die Kinder wirken wie Schattenwesen. Der Schluss reißt die Leserin durch seine Klarheit brutal in die Wirklichkeit.
Deine Sprache fließt bedächtig durch die ruhigen, fast ereignislosen Bilder, das gefällt mir.
Lieber Sid, liebe Medusa! Ich freu mich unglaublich über Eure positive Beurteilung des traurigen Schnappschusses aus Kinderaugenperspektive. Eine Situation, die leider viel zu oft vorkommt. Herzlichen Dank, Heidi
ich möchte mich spontan dem Lob von Sidgrani und Medusa anschließen. Gerade der einfühlsame Blick durch die Kinderaugen erzeugt eine ungeheuer starke Wirkung der Geschichte.
Trotzdem hatte ich beim ersten Lesen ein kleines Störgefühl, nachdem ich die Geschichte jetzt mehrmals gelesen habe, glaube ich gefunden zu haben, was es ist. Der über "Mausetot" eingeleitet Vergleich mit der Katze ist erzähltechnisch raffiniert gemacht, aber im Grunde lenkt er das Denken in eine Richtung, die mir bedenklich erscheint. Die Katze handelt instinktiv, man kann ihr nichts vorwerfen, sie ist nicht schuldfähig, während ein vernunftbegabter Mensch eben nicht instinktiv handeln muss und darf. Ich weiß nicht, wie es zu machen ist, aber es wäre schön, wenn das in der Geschichte auch deutlicher würde.
Vielleicht bin ich ja auch nur übersensibel, trotzdem wollte ich dir meine Gefühle mitteilen.
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