Kein Haus beherbergt die Einsamkeit. Entwurzelt auf Asphalt im Lichtermeer. Die Pfützen mit Benzin getränkt. In ihrem Spiegel blinde Augen.
Jahreszeit Endlosigkeit. Kein gelbes Laub, wo Bäume fehlen. Gefallen in Vergessenheit, früheres Blühen. Ein Nest aus Zeitungen in kalten Ecken. Heimat für flüchtige Träume.
Träume, die zwischen dichtem Schwarzgefieder lauter Scharen Krähenvögel ins Nebelgrau des Himmels flohen.
Atmen durch Risse im Asphalt. Keine Fragen, keine Ansprache; Selbstgespräche.
dein Gedicht gefällt mir außerordentlich gut. Die blinden Augen, die sich in Benzin getränkten Pfützen spiegeln (Anspielung an Narziss!!), das Nest aus Zeitungen, die in meiner Lesart verwaist aus Briefschlitzen gucken, und die Krähenvögel, die vom Tod künden und das morbide der Stimmung unterstreichen. Seltsamerweise verbinden wir das Wort Großstadt selten mit fröhlichem, turbulentem Treiben, sondern eher mit fehlender Ansprache und leisen Selbstgesprächen. Das ist mir anhand deines Gedichtes wieder klar geworden. Ich würde das Adjektiv "flüchtig" vor Träume streichen wegen der Doppelung mit Zuflucht. Außerdem ist in der Großstadt gefühlt für mich wenig Zeit für Adjektive, da fallen eher die Substantive übereinander her...
Und die Selbstgespräche bilden wieder einen Bogen zu den blinden Augen, die sich in Pfützen spiegeln. Narziss erblindet, wenn er sein Selbstbild erkennt. Dann versiegen auch die Selbstgespräche...
ich halte den Text für sehr gut, bildstark und erschütternd. Es passt alles, wie ich sehe, einzig das "leise" in der Schlusszeile könnte man noch streichen, um den Schlusspunkt zu akzentuieren.
die Uneindeutigkeit kurzer Sätze gibt vielen Interpretationen Raum. Das finde ich gut. Nicht alle Bilder waren so gemeint wir du, anna, sie erlebst, aber wie gesagt, das macht ja gar nichts. Die Dopplung von flüchtig und Flucht habe ich geändert. Danke für deine anerkennenden Worte.
Deinem Hinweis zur Betonung des Selbstgesprächs durch Streichung des Adjektivs finde ich spannend, Thomas. Bestätigt er doch die von anna empfohlene Zurückhaltung bezüglich Adjektiven in moderner Großstadtlyrik.
obwohl du sie an keiner Stelle explizit nennst, hatte ich sofort Obdachlose vor Augen, spätestens da, wo du „ein Nest aus Zeitungen in kalten Ecken“ erwähnst. Die Nähe zum versiegelten Boden, die Schutzlosigkeit und die Einsamkeit sowie das Ausgeliefertsein an die tristen, immer gleicher werdenden Jahreszeiten, kommen als Indizien dazu.
Sehr gelungen und durch das tilgen der Adjektive noch stringenter…
danke für deine Einschätzung, mein Gedicht als gelungen zu sehen. In der Tat vergesse ich bestimmte Menschen aus dem Stadtbild hier in Krefeld nicht, im Gegenteil: ich treffe sie immer wieder an den gleichen Stellen, auf der Suche nach etwas Heimat im anonymen städtischen Raum. Mich reizte es in Gegensätzen zu formulieren: kaltes Nest aus Zeitungen, aber eben kein schützendes Zuhause; statt frische Luft atmen sie das, was die Risse im Asphalt ausdünsten. - Uns allen sind vielleicht Momente innerer Heimatlosigkeit bekannt, doch auch äußerlich obdachlos zu sein, ist nach meiner Vorstellung eine ganz andere, verlorene Dimension von Leben.
ich möchte Gabis Idee aus dem Talk aufgreifen, die vielleicht dabei helfen kann, dass moderne Lyrik / Großstadtlyrik eingängiger werden kann, denn wir alle haben uns ja schwer mit dem Thema beschäftigt. Zu "Risse" habe ich dem Gedicht nun eine Rezitation angehängt. Vielleicht habt ihr ja auch Lust dazu!?
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