Kurz nach vier Uhr, und es dämmerte schon. Die alte Frau in dem winzigen Häuschen am Ende der Straße zündete wie gewohnt die große Kerze auf dem Wohnzimmertisch an und setzte sich in den Sessel. Kater Murr schlief seit Stunden neben dem Heizkörper am Fenster und räkelte sich. Im Winter ging er kaum vor die Türe. Das nasskalte Wetter war aber auch wirklich nicht einladend für Unternehmungen außer Haus, und auch die alte Frau beschränkte sie auf das Notwendigste. Besorgungen musste sie ja nicht viele machen. Es ging mehr um das Schwätzchen mit der Kassiererin im Supermarkt oder dem freundlichen Mann, der fast immer neben der Bushaltestelle aus seinem Fenster schaute.
Sie hatte, wie schon in den letzten beiden Jahren, keinen Weihnachtsbaum besorgt. Wozu auch? Sie hatte ihre Kerze, das war Schmuck und Andacht genug für sie. Daneben lagen die Weihnachtskarten ihrer Kinder sorgfältig der Reihe nach. Die beiden Jungs und die Tochter hatten wieder geschrieben, liebe Karten, aber alle erklärten, warum sie wieder nicht zu Besuch kommen konnten. Nun gut, das Leben und die Partner hatten sie weit in die Ferne gezogen, aber einmal im Jahr, an Weihnachten…
Die Alte saß bewegungslos, blickte ins Kerzenlicht und ihre Gedanken spazierten in alte Zeiten. Ja, die Kerze, jedes Jahr gab es an Weihnachten eine große, schöne Kerze. Zum ersten mal kurz nach der Geburt ihrer Tochter, dem Nesthäkchen. Es war eine Problemgeburt und die Ärzte glaubten zeitweise nicht mehr daran, dass die Mutter überleben würde. Erst am Weihnachtsabend hatten sie ihrem Mann gesagt, dass sie außer Lebensgefahr und stabil sei. Da kam er mit einer großen Kerze ins Krankenhaus, zündete sie unter Freudentränen an und sagte: "Das ist das Zeichen deiner Wiedergeburt!" Seither brannte zu jedem Weihnachtsfest eine große, schöne Kerze. Die war ihr wichtiger als der Baum, und auch nach dem Tod ihres Mannes vor zwölf Jahren hat sie den Brauch beibehalten. Als ihre Kinder noch kamen, durfte die Tochter die Kerze am zweiten Weihnachtsfeiertag mit nach Hause nehmen.
Traurig stellte sie fest, dass es von Jahr zu Jahr einsamer wurde, ihr Mann fehlte sehr, aber auch Freunde waren für immer gegangen, und seit dem Beginn der Isolationsmaßnahmen hatten sich einige, von denen sie es nicht erwartet hätte, völlig eingeigelt. Die Kinder telefonierten noch ab und zu, aber skypen und solche Dinge wollte sie nicht. Auch fernsehen nicht, weil immer weniger Schönes gesendet wurde. Radio hörte sie noch.
Überhaupt war die Sorge im letzten Jahr gewachsen und die Hoffnung geschwunden. Krieg war nahe gerückt und auch die Frage, wie sie mit ihrer Rente auskommen sollte, wenn die Inflation anhielt. Sie fühlte sich hilflos und müde, und war wohl ein wenig eingenickt, denn sie erschrak bei dem Klingeln an ihrer Haustüre.
Sie schaute auf die Wanduhr. Kurz vor fünf. Wer kann um diese Zeit noch kommen? An Weihnachten? "Mal sehen ob es das Christkind ist", dachte sie, und musste über ihren eigenen Gedanken schmunzeln. Es war natürlich kein Christkind, aber doch ein Kind, ein Junge von fünf oder sechs Jahren und seine Mutter, die erst im Herbst zwei Häuser weiter eingezogen war. "Guten Abend", sagte die junge Frau, "wir möchten ihnen zum Weihnachtsfest alles Gute wünschen." Der Junge streckte ihr ein Beutelchen mit Plätzchen hin. "Hat Mami selbst gebacken, lecker!"
Das Schmunzeln im Gesicht der Alten wurde zu einem Lächeln: "Kommen Sie doch herein, auf ein Tässchen Tee vielleicht. Wenn Sie einen Moment Zeit haben?" "Gerne", sagte die junge Frau, "wir wohnen nun schon eine Weile hier und haben uns noch gar nicht vorgestellt." Während die beiden ihre Jacken ablegten, ging die Alte in die kleine Küche, um den Tee frisch aufzubrühen, und rief: "Wie heißt ihr denn?" "Ich bin der Thomas" krähte der Kleine. "Thomas, so heißt auch mein erster Sohn, ein schöner Name, welch ein Zufall. Ich bin die Monika", antwortete sie. "Und ich die Anna" sagte die junge Frau spontan. "Dann setzt euch doch an den Wohnzimmertisch."
"Was für eine schöne Kerze hast du da!" sagte Anna, und blickte die Alte wegen des "du" etwas unsicher fragend an. Die zwinkerte mit den Augen: "Du bist Anna, ich Monika und das ist Thomas." Kater Murr erhob sich von seinem Platz an der Heizung, und schritt gemächlich zur anderen Seite des Zimmers und führte seine Dehnungsübungen vor. Nachdem er seine Anwesenheit dokumentiert hatte, rollte er sich zusammen und döste weiter.
Der Tee war inzwischen fertig und am Tisch wurde es behaglich. Monika frage viel und Anna erzähle von dem schwierigen Jahr, das sie hinter sich hatte. Sie war nun alleinerziehend, weil ihr Mann mit seinem "neuen Glück", wie er sagte, nach Südamerika auf und davon gegangen war. Zur gleichen Zeit war ihre Mutter gestorben. Der Vater war schon lange tot, Herzschlag, überarbeitet… Und Thomas kommt jetzt in die Schule. Anna schluckte und hielt einen Augenblick inne: "Er hat vorhin gesagt, dass Weihnachten nicht schön sei, ohne Papa und Oma. Da kam ich auf die Idee, Sie, sorry dich, zu besuchen." "Das war eine sehr gute Idee", sagte die Alte, "ich bekomme sehr wenig Besuch – in der letzten Zeit. Wenn ihr wollt, könnt ihr gerne öfter kommen. Und 'Oma' kann ich." Thomas strahle sie an: "Bist du eine richtige Oma?" Die Alte nickte und strich ihm übers Haar. "Aber ich glaube, du musst nun bald nachschauen, was das Christkind gebracht hat." Anna schaute auf die Uhr: "Ja, es wird Zeit, und das Christkind darf man nicht warten lassen. Aber wir werden bestimmt wiederkommen." "Au ja, Oma!" stimmte Thomas zu.
Fast wäre der Alten eine Träne ins Auge getreten. Sie wandte sich zum Tisch, nahm die Kerze und gab sie Anna wortlos in die Hand. "Aber das kann ich doch nicht annehmen, Monika!" Die Alte nickte ein "O doch!" Als die beiden sich vor der Haustür nochmals bedankt hatten und Monika dem davonhüpfenden Thomas zuwinkte, liefen ihr nun doch die Tränen über die Wangen, warme Freudentränen, wie die ihres Mannes, damals. Als sie ins Wohnzimmer kam, hatte sich Kater Murr auf dem Tisch breit gemacht, obwohl er genau wusste, dass das streng verboten ist.
ja, so geht es sicher einigen Menschen heutzutage. Du hast aus der Einsamkeitserfahrung eine wunderschöne, generationsübergreifende Weihnachtsgeschichte gemacht.
vielen Dank für die positive Aufnahme der Fastweihnachtsgeschichte, was mich besonders freut, da ich in Prosa nicht besonders bewandert bin.
Die Vereinzelung der Menschen, die in den letzten Jahren stark zugenommen hat, halte ich für schlimm und hoffe, dass bald wieder mehr Miteinander entsteht.
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