Bleib du in deiner Meerestiefe, Wahnsinniger Traum, Der du einst so manche Nacht Mein Herz mit falschem Glück gequält hast, Und jetzt, als Seegespenst, Sogar am hellen Tag mich bedrohest – Bleib du dort unten, in Ewigkeit, Und ich werfe noch zu dir hinab All meine Schmerzen und Sünden, Und die Schellenkappe der Torheit, Die so lange mein Haupt umklingelt, Und die kalte, gleißende Schlangenhaut Der Heuchelei, Die mir so lang die Seele umwunden, Die kranke Seele, Die gottverleugnende, engelverleugnende, Unselige Seele – Hoiho! Hoiho! Da kommt der Wind! Die Segel auf! Sie flattern und schwell'n! Über die stillverderbliche Fläche Eilet das Schiff, Und es jauchzt die befreite Seele.
Aus dem Zyklus "Die Nordsee" von Heinrich Heine
Der Freie Vers wird gemeinhin definiert als frei von Reim, frei von Metrum und frei von Rhythmus. Damit lässt sich jedoch wenig anfangen, denn das ist keine Definition. Definieren bedeutet sagen was etwas ist und nicht was es nicht ist. Nach dieser "Definition" kann sowohl eine Bedienungsanweisung, als auch ein beliebiger Nachrichtentext oder ein Einkaufszettel ein "Freier Vers" sein.
Auch der Eintrag zum Freien Vers in Wikipedia muss feststellen: "Praktisch anwendbare Merkmale des freien Verses zu bestimmen, stellt sich als sehr schwierig heraus, da der freie Vers sich eher negativ bestimmt." Der Versuch bei Wikipedia, das Thema über geschichtliche und länderspezifische Aspekte positiv zu bestimmen bleibt vage. Erwähnt wird jedoch Ezra Pounds Mahnung: "Glaube nicht, dass ein kluger Mensch sich hinters Licht führen lässt, wenn du dich um die Schwierigkeiten der unsagbar schweren Kunst guter Prosa drückst, indem du deine Arbeit in regelmäßige Zeilen hackst!" Leider wird später im selben Beitrag genau das, wovor Pound hier warnt, als Beispiel für den Freie Vers vorgestellt. Ich möchte nun versuchen den freien Vers positiv zu bestimmen, soweit es mir möglich ist.
Es sind zwei Fragen zu beantworten: Wodurch ist der Freie Vers "frei" und zweitens, wodurch ist er Freie Vers "Vers".
Ich sage "wodurch", weil wir nie einfach frei "von" sind, sondern immer nur durch etwas, so sind wir den Naturgesetzen unterworfen, und ihnen gegenüber nur frei, durch deren Erkenntnis und der drauf basierenden Technik, oder wir können nur vor dem Schicksal frei sein, durch einen erhaben Charakter.
Zuerst möchte ich fragen: Wodurch ist der Freie Vers überhaupt ein Vers?
Dass für den Freien Vers kein Reim nötig ist, ist leicht zu sehen. Die antike griechische Dichtung hatte keinen Reim, aber sie wurde ganz bestimmt in Verse gesungen. Der erste Versuch in die Richtung, die heute durch den Freier Vers charakterisiert ist, unternahm in der deutschen Poesie Friedrich Gottlieb Klopstock und bestand gerade darin, diese antiken Formen in die deutsche Sprache zu übernehmen.
Ein festes Metrum ist für den Vers auch nicht unbedingt nötig. Bei der Beschreibung der Gedichtformen wird im Allgemeinen das Metrum zwar immer hervorgehoben, ähnlich den Konstruktionslinien von Gemälden, aber in der poetischen Wirklichkeit ist seine Bedeutung gering. Wolfgang Kayser verwendet irgendwo den schönen Vergleich zu einer Stickerei, bei welcher der Betrachter das regelmäßig gewebte Tuch, in welchem gestickt wurde, bei dem fertigen Kunstwerk gar nicht mehr wahrnimmt. Das Metrum stützt eigentlich nur den Rhythmus, mehr nicht, und bei guten Gedichten ist es oft schwer im Nachhinein ein Metrum zu finden. Es ist also gar nichts Besonderes, wenn im Freien Vers kein Metrum erkennbar ist.
Der Rhythmus selbst ist nicht fest, aber was dem Vers zum Vers macht, und was den Vers von der rhythmisch völlig variablen Prosa unterscheidet, ist eine wiederkehrende rhythmische Bewegung, nicht unbedingt in exaktem Zeittakt, sondern durchaus schwebend und veränderlich wie die Phrasierung in der Musik, aber trotzdem für das Ohr des Lesers wahrnehmbar. Ohne dieses Charakteristikum kann es keinen Vers geben. Frei "von Rhythmus" kann also nur bedeuten, frei von einem bestimmten, starr festgelegtem "äußerem" Rhythmus.
Der Vers, auch der "nichtfreie", entsteht dadurch, dass die Sprache sich so organisiert, dass eine rhythmische Wiederkehr erfolgt, so als würde sie einem regelmäßigen Atmen, einem Auf- und Abbranden folgen, was man im Nachhinein als einen vorgegebenen Rhythmus interpretieren kann. In Wirklichkeit entspringt der Rhythmus jedoch der emotionalen Dynamik des Dichters, d.h. er tritt nicht von außen an die Sprache heran, sondern kommt von innen. Wenn man Fragmente guter Dichter studiert, in den denen sich Verse, vers-ähnliche Passagen und Prosastellen vermischen, wird dieser innere Prozess, welcher den Versrhythmus entstehen lässt, mit Händen greifbar.
Vor diesem Hintergrund wird die Bedeutung der Warnung Ezra Pounds vor dem "in Zeile hacken von Prosa" deutlich. Wenn also Erich Fried den Text einer Zeitungsannonce in Zeilen zerhackt, dann kann daraus keine Freier Vers entstehen, denn für Kehle und Ohr ist und bleibt es verslose Prosa, und das Auge hat an der Lyrik den geringsten Anteil. Leider gilt Ähnliches für Vieles, was "Freier Verse" genannt wird. Diese Texte gehören ins Reich der Prosa, was ihnen jedoch keinerlei Abbruch tut, wenn es nur gute Texte sind.
Nach dem bisherig Gesagten erscheint mir der Freie Vers gar nicht so revolutionär und kein völliger Bruch mit aller bisherigen Poesie. Aber er unterscheidet sich dennoch durch den radikal freien Gebrauch der sprachlichen Mittel.
Es stellt sich die Frage: Wodurch entsteht die Freiheit des Freien Verses?
Ich habe vorhin einen Aspekt des poetischen Prozesses erwähnt, der sich bisweilen in Fragmenten zeigt. Diese deutet an, dass die poetische Sprache sich anders formt als Prosa, weil der emotionale Gehalt des zu sagenden jeweils bestimmte rhythmische und klangliche Eigenarten mit sich bringt, aus welchen ein harmonisches Ganzes, eine Form, erwächst.
Wenn nun der Dichter in der Lage ist, sich so frei von etablierten Formen zu bewegen, dass er dem spezifischen Gedicht hier und jetzt eine völlig eigene Form geben kann, wenn sein Ausdruck und Gebrauch der sprachlichen Mittel durch sein Talent und seine Meisterschaft der bekannten Formen völlig frei ist, dann kann er, sozusagen ohne Balancestange auf dem Hochseil der Sprache, die genau passende Form für dieses eine Gedicht, das er gerade schreibt, finden. Er ist dann frei durch die Kenntnis und das bewusste Vermeiden hergebrachter sprachlicher Normen. Das erfordert jedoch eine große Meisterschaft der Sprache, und ich behaupte, dass der Dichter, der dazu in der Lage ist, auch gute Gedichte in jeder "alten" Form schreiben könnte, wenn er nur wollte, genau wie ein guter moderner Maler die Werke der Klassiker kopieren bzw. in deren Stil malen kann.
Mir scheint wichtig zu erwähnen, dass diese Freiheit auch nicht dadurch eingeschränkt werden darf, dass bestimmte "alte" sprachliche Mittel verboten werden, z.B. ein Verbot von Reimen oder metrisch gleichen Abschnitten, denn es kann ja sein, dass sie in einem besonderen Fall genau das passende Ausdrucksmittel für den Dichter sind.
Ein wichtiger Effekt dieser Gestaltungsfreiheit des Freien Verses scheint mir auch, dass der metaphorische Gehalt stärker in den Vordergrund tritt. Bei einem stark vom Rhythmus getragenen Wiegenlied kann der Inhalt "verdämmern", im Extremfall zu einem La-La-Li, während im Gegensatz dazu der Freie Vers vom metaphorischen Inhalt getragen wird.
Somit ist das Interessante für den Leser, dass er beim guten Freien Vers sehr nahe am dichterischen Schaffensprozess ist.
Abschließend möchte ich die Auswahl des dem Text vorangestellten Beispielgedichtes begründen, welche manchen überrascht haben mag.
Wenn über den Ursprung des modernen Freien Verses gesprochen wird, dann wird meistens auf Friedrich Gottlieb Klopstock und einige frühe Gedichte von Johann Wolfgang Goethe verwiesen. Meiner Meinung nach trifft das den Punkt nicht gut, da es damals vor allem um die Übertragung antiker Rhythmen, vor allem Pindars, in die deutsche Sprache ging, d.h. um Rhythmen, die zwar sehr flexibel, aber nicht "frei" sind.
Im Gegensatz dazu scheint mir beim lauten Lesen von Heinrich Heines Zyklus "Die Nordsee" deutlich hörbar zu sein, wie der Freie Vers aus dem volksliedhaften Versen Heines in der deutschen Sprach selbst entsteht. Somit würde ich lieber hier die Geburtsstunde dieser Form in der deutschen Dichtung ansiedeln.
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