Meine Mutter war so eine Person, die bayerisch, tiefkatholisch und abergläubig zeitlebens uns Kinder zur Verzweiflung brachte. Ob es nun die unschuldige schwarze Katze war, die von links über die Straße gelaufen kam oder der Spiegel, der zu Bruch ging. Besonders gefährlich war auch Freitag, der 13. Sie klopfte auf Holz, über unserer Tür hing ein Hufeisen und zwischen Weihnachten und Neujahr stapelte sich in unserer Großfamilie die Schmutzwäsche. Unglück musste verhindert werden, wo es nur möglich war. Das hinderte sie allerdings nicht daran, frühmorgens mitten auf der noch leeren Autobahn, in die sie fälschlicherweise eine Ausfahrt zu früh abgebogen war, anzuhalten, umzudrehen und die etwa 300 Meter wieder zurückzufahren, die Ausfahrt wieder hinaus und erst dann den richtigen Weg einzuschlagen. Gedanken darüber, dass wir als Kurzzeitgeisterfahrer vielleicht vom Pech verfolgt sein könnten, hegte sie keine. Derartige Prognosen waren ihr im Vorfeld schließlich nicht begegnet. Einmal waren wir unterwegs in die Großstadt zum Einkaufen. Meine Schwester und ich sollten neu eingekleidet werden. Zu Mutters Leidwesen sprang schon kurz nach dem Start ein großer schwarzer Kater, Nachbars Mohrle, direkt vor unserem Auto über die Fahrbahn und auch noch von links. Ich konnte sehen, wie sich ihr Gesichtsausdruck umwölkte, sie presste die Lippen zusammen und starrte ernst aus dem Autofenster. Ihre Hände, die den Lenker umfassten wurden leicht weißlich vom krampfhaften Zusammenpressen, aber sie sagte nichts. Kein Wort. Wir Mädchen hielten den Atem an, aber nichts geschah. Problemlos schafften wir die zwanzigminütige Fahrt bis, ja bis uns gleich am Stadtrand die zweite schwarzhaarige Katze vors Auto lief, uns einen Moment erschreckt anstarrte und ihren Weg dann schleunigst zum rechten Fahrbandrand fortsetzte. Mutter war kreidebleich geworden. Wir konnten es im Rückspiegel deutlich sehen. Ihre Atmung frequentierte zur Schnappatmung. Langsam fuhr sie weiter. Sehr langsam. Viel zu langsam. Andere Verkehrsteilnehmer hupten, zeigten uns beim Überholen den Vogel, aber Mutter zockelte unbeirrt im Schritttempo weiter. Fast hatten wir die Innenstadt erreicht und wir Schwestern wollte schon erleichtert aufatmen, als Mutter einen Schornsteinfeger entdecke. „Gerettet“, stieß sie leise aus, parkte den Wagen kurzerhand am Straßenrand und sprang über die Straße. Nur war der Schornsteinfeger nicht etwa in Griffnähe auf dem Erdboden. Nein, er stand in luftigen Höhen auf einem Hausdach und hantierte mit seinen Gerätschaften an einem Schornstein. So, wie es eben sein sollte. An der Hauswand stand eine Holzleiter und bevor irgendwer sie abhalten konnte, kletterte unsere Mutter die Sprossen hinauf, um dem Schornsteinfeger an seinen Jackenknöpfen zu drehen. Uns stand der Mund offen vor Schreck. Gott sei Dank war es kein sehr steiles Dach und Mutter war sportlich. Oben angekommen zog sie ihre Schuhe mit den mittelhohen Absätzen aus und stellte sie feinsäuberlich in die Dachrinne, um den kurzen Restweg barfuß fortzusetzen. Der Schornsteinfeger drehte sich entsetzt nach ihr um: „Sind sie übergeschnappt? Machen Sie, dass Sie vom Dach kommen!“ „Ich bin gleich wieder weg. Entschuldigen Sie, darf ich kurz – ihre Knöpfe – ich brauche dringend etwas Glück. Wirklich, sehr dringend.“ Unbeirrt bewegte sich unsere Mutter auf den Mann zu, sich hin und wieder mit den Händen auf den Ziegeln abstützend. Der Schornsteinfeger erkannte, dass er diese Frau nicht aufhalten konnte. Um die Gefahr zu minimieren, streckte er ihr die Hand entgegen und zog sie näher zu sich heran. „Sie spinnen doch, gute Frau. Sie hätten unten warten können, bis ich fertig bin und das Grundstück wieder verlasse.“ „Dafür ist leider keine Zeit. Wir haben noch sehr viel vor heute.“ „Dann machen Sie, aber ich helfe Ihnen beim Abstieg, nicht dass Sie mir noch vom Dach stürzen.“ Mutter machte sich an einem seiner Knöpfe zu schaffen und lächelte den Schornsteinfeger dankbar an. Er versuchte Mutter zu sichern, bis sie wieder auf der Leiter stand. Ihre Schuhe warf ihr der Schornsteinfeger zu, nachdem Mutter festen Boden unter den Füßen hatte. Glücklich zog sie sie an. Die schwarzen Fingertapsen darauf störten sie nicht im Geringsten. In der folgenden Nacht träumte Mutter dann tatsächlich sechs Zahlen. Da sie nie Lotto spielte, gab sie Vater den Zettel mit dem Auftrag unbedingt noch heute einen Lottoschein auszufüllen und abzugeben. Was soll ich sagen? Als am Wochenende die Ziehung war, fielen die Kugeln mit Mutters Zahlen, eine nach der anderen. Alle sechs. Mutter jubelte, Vater hingegen sah sehr betreten drein. Er hatte vergessen den Schein abzugeben. Ich glaube, ich hatte unsere Mutter noch nie so verärgert gesehen. Eine ganze Woche lang sprach sie kein Wort mehr mit unserem Vater.
Das ist nun alles schon sehr lange her. Ich stand in der Einfahrt zu einem freundlichen Gebäude und sah die Fassade empor. Gleich würde der Vermieter erscheinen, um mich durch die Räume zu führen. Schon eine ganze Zeitlang war ich auf der Suche nach einer neuen Wohnung, aber heute würde es klappen. Ich wusste es. Gestern hatte ich schließlich beim Gassigehen mit dem Hund ein vierblättriges Kleeblatt gefunden und es lag nun frischgepresst zwischen den Seiten meines Lieblingsbuches.
eine sehr schöne Geschichte und super gut erzählt. Von A - Z hing ich an den Lippen der Erzählerin, und besonders die Passage mit dem Schornsteinfeger wurde so plastisch, dass ich mir das Muster des Mantels deiner Mutter ansehen konnte. Vielen Dank für diesen besonderen Moment, der mich nun in meiner Kindheit graben lässt, nach Momenten die ich noch heute erinnere.
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