Ballade: Sänger versus Schriftsteller

Ich möchte zwei kurze Zitate anführen, die meiner Meinung nach wert sind, gründlich durchdacht zu werden, weil sie nicht nur ein Licht auf das Wesen der Ballade als Gattungsform werfen, sondern auch auf die Lyrik im Allgemeinen.

Liebe Grüße
Thomas


Johann Wolfgang Goethe
"Ballade" Betrachtung und Auslegung

Die Ballade hat etwas Mysterioses, ohne mystisch zu sein; diese letzte Eigenschaft eines Gedichts liegt im Stoff, jene in der Behandlung. Das Geheimnisvolle der Ballade entspringt aus der Vortragsweise. Der Sänger nämlich hat seinen prägnanten Gegenstand, seine Figuren, deren Taten und Bewegung so tief im Sinne, dass er nicht weiß, wie er ihn ans Tageslicht fördern will. Er bedient sich daher aller drei Grundarten der Poesie, um zunächst auszudrücken, was die Einbildungskraft erregen, den Geist beschäftigen soll; er kann lyrisch, episch, dramatisch beginnen und, nach Belieben die Formen wechselnd, fortfahren, zum Ende hineilen oder es weit hinausschieben. Der Refrain, das Wiederkehren ebendesselben Schlussklanges, gibt dieser Dichtart den entschiedenen lyrischen Charakter.

Hat man sich mit ihr vollkommen befreundet, wie es bei uns Deutschen wohl der Fall ist, so sind die Balladen aller Völker verständlich, weil die Geister in gewissen Zeitaltern, entweder kontemporan oder sukzessiv, bei gleichem Geschäft immer gleichartig verfahren. Übrigens ließe sich an einer Auswahl solcher Gedichte die ganze Poetik gar wohl vortragen, weil hier die Elemente noch nicht getrennt, sondern wie in einem lebendigen Ur-Ei zusammen sind, das nur bebrütet werden darf, um als herrlichstes Phänomen auf Goldflügeln in die Lüfte zu steigen.

Aus: Über Kunst und Altertum (Stuttgart), Bd. 3, Heft 1, 1821.



Ballade: Sänger versus Schriftsteller

Der Balladendichter ist "Sänger", der als solcher den ganzen Menschen erfassen kann: Er kann "die Einbildungskraft erregen, den Geist beschäftigen"… Die Vereinigung der drei Hauptgattungen Lyrik, Epik und Dramatik in der Ballade wird also, wenngleich auf eine sehr verhaltene Weise, mit einem anthropologischen Konzept in Verbindung gebracht, das ebenfalls ein Einheitskonzept ist. Das macht meines Erachtens die eigentliche Bedeutung der Goetheschen Definition aus.

Diese Konzeption fordert eine höhere Autorität für den Dichter ein als die des bloßen Dichters als Autor oder gar als Schriftsteller. Der Dichter als Sänger fordert durch die Präsenz seiner Stimme und seiner Person unmittelbare Geltung, nämlich in der konkreten Situation gültig zu sprechen und so verstanden zu werden. Der Sänger braucht das lebendig "Ohr". Der Dichter als Sänger ist mündlicher Dichter im sozialen Zusammenhang. Als solcher zieht er in den Bann; als solcher fordert er Aufmerksamkeit für sein Wort. Die Situation der Mündlichkeit fordert unmittelbares Verstehen. Der Zuhörer kann sich nicht absondern, oder er versteht einfach nicht. Das gehörte Wort ist gültiges Wort in der Situation; und es erhält Nachdruck durch die körperliche, physiognomische, gestische Präsenz des Sängers. Die Konzeption des Dichters als Sänger ist archaischer als die des Dichters als Autor und Schriftsteller. Der Dichter als Sänger ist auch prophetischer Künder. Er ist zugleich "Rhapsode, der das vollkommen Vergangene vorträgt" und "in ruhiger Besonnenheit das Geschehene übersieht", und "Mime", der "die Begebenheit [...] als vollkommen gegenwärtig darstellt" und so "viel lebhaftere Wirkungen wagen kann", wie man an den Reaktionen seiner Zuhörer sieht. Das gelesene Dichterwort macht dagegen den Leser frei, abzuschweifen, vor- und rückzublättern, sich über Passagen hinwegzumogeln, mit sich ein Selbstgespräch zu führen usw. Der sich durchsetzenden Literalität entspricht deshalb das für das spätere 18. Jahrhundert zentrale und bis heute gültige ästhetische Postulat der prinzipiellen Vieldeutigkeit und unendlichen Deutungsoffenheit des Kunstwerks. Vieldeutig ist das literarische Kunstwerk primär für einen Leser, nicht für den Hörer.



Aus: W. Braungart: Das Ur-Ei. Einige mediengeschichtliche und literaturanthropologische Anmerkungen zu Goethes Balladenkonzeption

Liebe anna,

wenn Goethe von "Sänger" spricht, dann meint er nicht unbedingt, dass Balladen gesungen werden müssen, sondern er drückt die besondere Eigenart und Wirkung der Ballade aus, welche von der Präsenz des (dichtenden) Sprechers getragen wird. Oder anders ausgedrückt, Balladen sind nicht mit den Augen zu lesen und dem Hirn zu verstehen, sondern sie müssen im Ohr klingend gelesen werden, selbst wenn man sie still liest und auf eine Weisegelesen werden, die "etwas Mysterioses hat". D.h. wiederum nicht, dass der Inhalt mysteriös sein muss, sondern es bezieht sich wiederum auf die Lese- bzw. Vortragsweise.

Diese Form kam in der modernen Dichtung völlig unter die Räder, was wohl daran liegt, dass moderne Dichter eben nur Schrift-Steller und keine Sänger sind.

Das ist Goethes Meinung, aber man sieht, dass z.B. Schiller (obwohl die beiden im Balladenjahr aufs engste miteinander gearbeitet haben und sogar der eine die Ideen des anderen umgesetzt hat), es etwas anderes sieht. Seine Balladen sind eher kleine Dramen und das mysteriöse des Vortrags ersetzt bei Ihm eher die Nemesis oder das Hervortreten eine höhere Ordnung im geschilderten Geschehen.

Aber unabhängig von der Kunstballade aus der Zeit der Weimarer Klassik, welche ich für den Höhepunkt der Balladendichtung halte, ist die Ballade eine sehr flexible Form, bis hin zum Bänkelsang oder zur Moritat, in der man sich so richtig austoben kann.

Liebe Grüße
Thomas

Liebe anna,

Jan Wagner ist eine interessante Erscheinung aber wenn überhaupt, dann wären wohl am ehesten Vertreter des Poeten Slams "Sänger", weil hier der authentische Vortrag und die Präsenz des Dichters sowie dessen Interaktion mit dem Publikum wesentlich die Wirkung ausmacht. Ich bin recht sicher, dass an der mutigen These, die übrigens keine Wertung ist, einiges dran ist.

Liebe Grüße
Thomas