Der Monolith (oder: „Wir leben alle in einer Welt ...“) von Dirk Michael Boche
Es war ein kalter, grauer Novembermorgen. Schon oft stand ich vor dem kleinen unscheinbaren Laden, bestaunte die urzeitlichen Gesteine, Minerale und Fossilien aus fremden Zeiten und Ländern. Heute, so wusste ich, werde ich mich entscheiden müssen! - Ich wollte ihn schon immer, jenen etwas milchigen Bergkristall.
Die Entscheidung war gefallen! Ich betrat den kleinen Laden und ließ ihn mir vorführen.
„Das ist ein schöner Bergkristall!“.
Der hagere Mann hinter dem Ladentisch zögerte etwas, dann entgegnete er mir: „Ja! Und das Schlimmste ist, wir können noch nicht einmal beweisen ob er lebt!“.
Diese Antwort hatte mich etwas verwirrt! Hinter einem weinroten schweren Vorhang, plüschig und verstaubt, drang eine Frauenstimme in den Verkaufsraum:
„Was unterscheidet uns von einem Tier? - Gibt es überhaupt einen Unterschied?“. Meine gesamte Konzentration richtete sich auf einen schmalen Spalt im Vorhang. Die Frau, vielleicht Mitte sechzig, weißhaarig und von guter Statur, trat nun hinter dem verstaubten weinroten Vorhang hervor und setzte fort: „Der Mensch sagt immer, er sei das intelligenteste Wesen auf Erden! - Aber was ist das für eine Intelligenz? Wenn der Mensch wirklich so intelligent ist, warum denkt er denn immer nur daran, wie er sich und alles mit ihm zerstören kann? - Warum denkt er nicht darüber nach, wie er und seine Umwelt überleben könnte? - Tiere töten nur aus Angst oder zur Nahrungsaufnahme, zum Überleben! Und doch, der Mensch, die Katze die mit der Beute spielt!“.
Ich fühlte mich unwohl und schwieg. Der hagere Mann hinter dem Ladentisch setzte fort:
„Seit der Wöhler´schen Harnstoffsynthese gibt es keinen Unterschied zwischen organisch und anorganisch! - Ich glaube es gibt viel intelligenteres Leben, als Menschen es sind. Nehmen wir zum Beispiel diesen Bergkristall! Er ist nahezu vollkommen und anspruchslos, und wir können noch nicht einmal beweisen ob er lebt!“.
„Niemand kann beweisen dass er lebt!“: entgegnete die weißhaarige Frau, welche sich, ohne dass ich es bemerkt hatte, wieder hinter dem staubig, plüschig, weinroten Vorhang zurückgezogen hatte: „Wenn ich Dich berühre, wer sagt mir dass es kein Alptraum ist? Dass ich nur geglaubt habe, Dich zu berühren?“.
Plötzlich spürte ich ein unbekanntes Verlangen, eine Kraft, welche mich zum Überlegen und zu einer Antwort zwang:
„Zwei, drei, neun!“. Der Vorhang preschte zur Seite! Gab den Blick frei auf unzählige Kisten und Kartone, und Berge von altem Zeitungspapier. Der Staub tanzte im fahlen Licht der Sonne, dass sich nur mühsam durch das schmale Fenster am Ende des Raumes zwang.
„Zwei, drei, neun!“: wiederholte ich: „Das sind zum einen Teil nur Zahlenwerte, vielleicht einer Variablen, somit austauschbar! - Zum anderen Teil jedoch eine Ordnungszahl. Zahlenwerte, Variable, Ordnungszahlen, sind von Menschenhand geschaffen. Wie der Mensch mit dieser Ordnungszahl umgeht, zeugt jedoch von völligem Schwachsinn! - Trotzdem, es steckt eine Intelligenz hinter diesen Dingen.“. - Ich nahm meinen Bergkristall und bezahlte.
Noch immer klingt es mir in den Ohren:
„Das ist ein schöner Bergkristall!“
„Ja! Und das Schlimmste ist, wir können noch nicht einmal beweisen ob er lebt!“.
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