An neunzehn schwarzen Fäden und einem Silberband

Eine Art Weihnachtsmärchen

Der kleine Mann war heute scheinbar noch trauriger als gestern. Dabei hätte jeder angenommen, dass seine lustig leuchtende Kartoffelnase und seine unentwegt lachenden Lippen jeden Anflug von Traurigkeit sofort vertrieben hätten. Aber es war ganz deutlich zu sehen. Die Bewegungen der kleinen Hände und Gliedmaßen hingen noch resignierter an den schwarzen Fäden als gestern. "Komm, August, wir wollen es noch einmal versuchen!" sprach sich Herbert, der das Gestell, an dem die vielen Fäden endeten, sorgfältig in den Händen hielt, selbstaufmunternd zu. Beide traten aus ihrer Ecke einige kleine Schritte hervor in den Fußgängerstrom der Einkaufspassage und riefen: "Aufgepasst, Damen und Herren, hier erleben sie August, den unmöglichen Clown, der alles kann. Mademoiselle, darf ich mich vorstellen..."

Hätten die vielen Vorbeieilenden ihre letzten Weihnachtseinkäufe nur für wenige Sekunden vergessen und sich Herbert und seine Marionette ein wenig angeschaut, so hätte diese außergewöhnliche Erscheinung ihr Interesse sicher sofort gefesselt. Herbert war eigentlich recht unscheinbar, von mittelgroßer Statur, arm, doch sehr akkurat gekleidet. Hose und Mantel passten nicht genau und waren offensichtlich gebraucht gekauft. Die dunklen Stoffhandschuhe und der steife Hut gaben der ganzen Erscheinung ein komisch vornehmes Aussehen, welches in gewisser, wenn auch ungewollter Weise, dem seiner Marionette ähnelte.

Herbert war Feinmechaniker – und, wie er wusste, ein guter – bevor der kleine Betrieb, in welchem er seit 16 Jahren gearbeitet hatte, plötzlich dichtmachen musste. Ein Jahr lang hatte er sich die Hacken nach einer neuen Arbeit abgelaufen. Aber wer nimmt schon einen Achtundfünfzigjährigen? Damals gab es bittere Zeiten, da hätte er am liebsten alles hingeworfen. Doch "egal, wo man steht, Hauptsache, man steht noch und steht aufrecht!" hatte er sich damals gesagt und hatte einfach versucht, an etwas ganz anderes zu denken. Und eines Tages, es war nun schon zehn Monate her, da hatte er begonnen einen seiner vergessenen Kindheitsträume zu verwirklichen. Er begann Marionetten zu bauen. Technisch war das für ihn kein Problem. Aber dennoch gefielen ihm seine ersten Puppen nicht so recht. Der struppige Räuber oder der kantige Ritter, und auch die süße Prinzessin nicht. Doch dann bekam er die Idee für August. Er arbeitete zwei Wochen lang wie besessen und als August schließlich fertig war, war es Liebe auf den ersten Blick.

Da er sowieso nichts zu tun hatte und das Frühlingswetter in diesem Jahr so mild war, stellte er sich an eine Straßenecke und ließ August spielen. Zuerst etwas verstohlen, dann auch in Gegenden, wo öfter jemand vorbeikam. Anfänglich bewegte er sich noch recht hölzern und fiel oft aus der Rolle, oder wusste nicht mehr weiter, aber im Lauf des Sommers hatte er sich zu einem schlagfertigen Spaßmacher gemausert, der es geradezu genoss, wenn vorwitzige Zuschauer ihn durch seltsame Fragen aufs Glatteis führen wollten, weil ihm dann sein natürlicher Schalk im Nacken besonders lustige Antworten ins Ohr flüsterte. Am liebsten spielte er jedoch mit den Kindern. Für sie schlug er die wildesten Kapriolen, tanzte oder vollführte einen halsbrecherischen Balanceakt auf einem Treppengeländer oder der Lehne einer Parkbank. Herbert war auf die Gaben, welche sich im Laufe des Tages gewöhnlich in der aufgestellten Zigarrenkiste ansammelten, nicht unbedingt angewiesen. Er hätte nicht hungern müssen. Doch es wäre gelogen zu behaupten, ihn hätte es gleichgültig gelassen, wenn darin eine silberne Münze oder manchmal sogar ein kleiner Schein landeten. "Es ist halt ein willkommenes Zubrot!", sagte er immer schmunzelnd.

In den letzten Wochen, insbesondere seit dem ersten Advent, ging das Geschäft jedoch schlecht. Es war wie verhext. Immer mehr Menschen eilten durch die Stadt und immer weniger blieben stehen, um August zuzuschauen. Je mehr er sich bemühte, Aufmerksamkeit zu erheischen, umso weniger zeigten Interesse. Heute war es besonders schlimm. Alle jagten verbissen den letzten vergessenen Dingen für die Festtage nach. Schon der Morgen hatte schlecht angefangen, als ihn die Blaskapelle des Großkaufhauses von seinem Stammplatz vertrieb. "Vertrieb" ist vielleicht ein etwas zu hartes Wort, aber wie sollte er mit seiner stillen Kunst gegen das pausbäckige "Stille Nacht, heilige Nacht" von zwei unentwegten Trompeten und vier Posaunen ankommen? Er konnte es mittlerweile nicht mehr anhören. Stille Nacht – auch der Mann dort rennt einfach vorbei – heilige Nacht – Die Frau bleibt auch nicht stehen – alles schläft – an festgekrampfter Hand wird ein Kind weitergezerrt – einsam wacht...

"Ach August! So schlecht sind wir doch nicht!", sagte er plötzlich laut inmitten des Trubels, in dem ihm ja sowieso niemand zuhörte. "Du hast immerhin neunzehn Fäden, das ist eine Menge. Aber auf die Anzahl der Fäden kommt es ja gar nicht an. Die Seele muss darin liegen, das ist's!" Dann stand er da und starrte vor sich hin. Stand still und starrte...

Der Einkäuferstrom versiegte schließlich. Und er stand immer noch da. Erst als er, wie in der Ferne vorbeiziehen, eine jugendliche Stimme vernahm – "Guck mal, was ist denn mit dem komischen Alten dort?" –durchfuhr es ihn mit einem Ruck, er hob August hoch und setzte sich langsam in Bewegung. "Der komische Alte", das wollte er nun auch nicht.

Er ging, wohin war im gleichgültig, nur nicht nach Hause in seine kalte Stube. Er ging aus der weihnachtsmüden Innenstadt hinaus und kam in Wohngebiete. Auch hier war nun alles still. Schließlich erschöpfte sich auch der Impuls, den ihm der komische Alte versetzt hatte, und er ließ sich auf der Treppe eines Hauseingangs nieder. August hatte er wie tot neben sich hinfallen lasen. Mürrisch wendete er sich um und stieß die Marionette an den Rand der Stufe. August machte einen halben Purzelbaum und wackelte eine Weile sachte mit dem Kopf. "Ach, Herbert, nun magst du mich wohl auch nicht mehr sehen, wie all die anderen? Und dabei bin ich doch ein so guter Clown." Herbert drückte seinen Hut tiefer in die Stirn und presste die Lippen zusammen. "Mensch Herbert, pass bloß auf, dass du dich nicht an deinem Selbstmitleid verschluckst. Haben wir beide denn das ganze Jahr gespielt, um die Menschen zu erfreuen oder nur um ihren Beifall zu erhaschen?" Herbert wollte über diese Bemerkung sehr zornig werden, aber August setzte sich mit einer so kindlich tapsigen Verrenkung vor ihn hin, dass es nur noch zu einem mürrischen "Knallkopf!" reichte. "Ach Herbert, du musst verstehen, die anderen Menschen haben so viel zu tun vor Weihnachten, sie haben Familie und müssen Geschenke einkaufen. Glaube mir, ich würde dich auch gerne mit einem kleinen Weihnachtsgeschenk überraschen. Aber du weißt ja..."

Herbert liefen plötzlich Tränen über die Wangen. Er drückte seinen August ans Herz. "Ja August, die Leute haben uns in der Eile zwar nicht recht bemerkt, aber sie wären wohl recht enttäuscht von uns gewesen, wenn wir nur deswegen nicht mehr dagewesen wären. Und Weihnachten ist jetzt auch vorbei!" "He, Onkel! Was hast du denn da im Arm?" schmetterte ihm plötzlich eine Kinderstimme entgegen. Herbert hatte gar nicht gemerkt, wie sich der kleine Blondschopf vor der Eingangstür postiert hatte. Er drückte verstohlen die Tränen weg und antwortete nichts, das war Augusts Aufgabe. Der sprang auf die unterste Treppenstufe und rief aus vollem Hals: "Mensch, du hast ja eine ganz rote Nase. Wie heißt du denn?" "Deine Nase ist auch ganz rot!" "Ich heiße August, und du?" "Ich heiße Bernd. Und wer bist du denn. Du siehst so komisch aus." "Ich bin ein Clown, wie im Zirkus. Das sieht doch jeder!" Bernd besann sich einen Augenblick: "Aber du lachst ja gar nicht?" "Doch, doch, Bernd", sagte August nachdenklich: "Ich lache nur ganz, ganz leise, damit ich das Christkind nicht aufwecke!" Dann blickte August Bernd von oben bis unten an, schaute ihm ins Gesicht und neigte verschmitzt den Kopf zur Seite. Bernd lächelte und legte auch den Kopf zur Seite. August sprang plötzlich in die Höhe, setzte sich hin und rieb sich mit großer Geste die rote Nase. Bernd schaute sich etwas unsicher um und drückte sich mit der rechten Hand das kalte Näschen platt. "Was machst du denn hier ganz alleine, Bernd?" "Ich war gerade mit Mama und Papa beim Christkind in der Kirche" "Ja und wo ist denn deine Mama und dein Papa?" "Ei da, am Auto!" August schaute sich um, in der Tat, da kamen sie. Der Papa hielt hinter dem Rücken ein Paket versteckt, welches er gerade noch heimlich aus dem Kofferraum geholt hatte. "Oho, da kannst du wohl gar nicht schnell genug nach Hause zur Bescherung kommen; wo wohnst du denn?" "Na hier!" –

"Ach, so!" sagte Herbert verlegen und verbeugte sich höflich vor der jungen Frau: "Da sitze ich ja vor Ihrer Eingangstür." Herbert war die Situation unsäglich peinlich, zumal ihm die junge Frau ganz offen und tief in die Augen sah. "Mami, Mami, guck mal, der August" krähte Bernd und hüpfte aufgeregt von einem Fuß auf den anderen. August machte automatisch eine tiefe Verbeugung. Die junge Frau strich ihrem Bernd liebevoll übers Haar und blickte ihren Mann kurz fragend an. Dieser nickte fast unmerklich und murmelte: "Sehr gute Idee. Du bist ein Goldstück." Herbert stand immer noch verdattert da. "Meinen Sie nicht", wandte sich die junge Frau ihm zu: "dass der August heute Abend bei uns die Bescherung übernehmen kann; falls Sie Zeit haben. – Was hältst du denn davon, Bernd?" "Au ja, Papi, Papi, der August soll mit zum Christkind kommen!"

Einen Moment stand Herbert versteinert da. August machte nur einige unbeholfene Hüpfer. Er blickte ins Gesicht der jungen Frau, des Mannes und schließlich betrachtete er lange den kleinen Bernd. Der Schlüsse rasselte im Schluss, die Türe öffnete sich, und August führte ihn in die warme Stube.

In später Nacht sah man – falls man in der heiligen Nacht um diese Zeit noch auf der Straße war – einen Mann mit steifem Hut beschwingt heimwärts ziehen. Er hüpfte beim Laufen von einem Bein aufs andere und stieß bei sich bietender Gelegenheit übermütig ein Papierknäuel oder ein Steinchen mit dem Fuß beiseite. Dabei hielt er sorgsam etwas in seinen Mantel gehüllt, zu dem er leise sprach: "Ja, ja, schlafe nur August! Du musst jetzt hundemüde sein, nach so einem Tag. Hast du gesehen, wie die Augen des kleinen Bernds gestrahlt haben. Mensch, das war ein Weihnachtsfest! Ich glaube, das war die beste Vorstellung, die wir jemals gegeben haben. Du warst aber auch phantastisch, August; manchmal habe sogar ich geglaubt du seist lebendig. – Erst habe ich gedacht, die wollen uns nur nicht auf ihrer Treppe sitzen lassen – so eine Art Almosen. Aber wie mir der Mann zum Abschied die Hand gedrückt hat. Das war ehrlich. Ach weißt du August? Ich glaube uns zwei beide – Naja, du weißt schon!"






© Ralf Schauerhammer

Liebe Medusa,

herzlichen Dank, deine 5 Kerzen schimmern ja ähnlich.

Liebe Grüße
Thomas