Fräulein Anders wurde sie von ihren Freunden gerufen, ihr wirklicher Name war jedoch Benedictine von Löwenstein. Ihre Vorfahren stammten aus der Niederlausitz und hatten dort einst ein großes Landgut besessen, doch das war lange her. Einzig ihr Nachname erinnerte an diese Zeit und den verschwieg sie am liebsten. Von Löwenstein passte ihr nicht, sie war keine von und zu, sie war ein Fräulein Anders, das hatten ihre Freunde schon ganz richtig erkannt.
Sie saß an diesem sonnigen Frühlingsmorgen in ihrem Lieblingscafé vor den aufgestapelten weißen Bierkisten, die durch die Auflage eines schlichten Holzbrettes in kleine Tische umfunktioniert worden waren. Fräulein Anders saß dort, den anderen Gästen des Cafés leicht abgewandt – Kontakt unerwünscht prangte in großen unsichtbaren Lettern auf ihrem Rücken. Obwohl die Sonne schien und die vorbei flanierenden Menschen kurzärmelige Kleidchen und T-Shirts trugen, zog Fräulein A., wie ich sie im Folgenden nennen werde, die Kapuze ihrer blauen Allwetterjacke fest über ihren Kopf, als wolle sie sich darunter auf Schatzsuche begeben. Alleine natürlich, alles andere lag außerhalb ihres Vorstellungsvermögens.
Fräulein A. wiegte ihren Kopf, der inzwischen nahezu komplett von der Kapuze bedeckt war, leicht hin und her. Sie liebte dieses Gefühl, in einer weichen Höhle zu stecken, wer weiß, vielleicht erinnerte sie das an die Zeit bevor sie in die Welt kam. Aber darüber dachte Fräulein A. nicht nach, überhaupt dachte Fräulein A. nicht so gerne nach, sie fühlte lieber. Sie verschwand lieber kopfüber in Kapuzen oder unter Bettdecken oder worunter man eben verschwinden konnte. Dort fühlte sie sich sicher – nur sie und die warme Luft ihres Atems und die weiche Begrenzung durch was auch immer.
Wann Fräulein Anders mit ihren Kapuzentauchmanövern begonnen hatte, konnte keiner mehr sagen. Auch ihre Freunde nicht. Die schwiegen ohnehin die meiste Zeit, Fräulein A. strengte es an, sich zu unterhalten, das wussten sie. Also hielten sie sich zurück und betrachteten Fräulein A. stumm und durchaus wohlwollend aus den Augenwinkeln. So klappte es prima mit ihrer Freundschaft, sie schweigend in der Ecke des Zimmers sitzend und Fräulein A. in ihrer eigenen Welt. Man muss sich nicht nah kommen, um befreundet zu sein, manchmal reicht es, wenn man weiß, dass die anderen da sind und schweigen. Fräulein A. konnte gar nicht verstehen, warum Menschen so viel miteinander reden mussten, in der Stille lag ihr Geheimnis, das war offensichtlich, wenn man sie beobachtete.
Und nachts, wenn sich das Dunkel wie eine große Kapuze über die Welt legte, wenn alles darunter zu verschwinden schien und nur Mond und Sterne und Straßenlaternen für etwas Licht sorgten, verließ Fräulein A. ihren angestammten Platz in dem Lieblingscafé, das rund um die Uhr geöffnet hatte. Dann ging sie zurück in ihr Zimmer im dritten Stock des Wohnhauses aus den siebziger Jahren mit der grauen Fassade, zurück zu ihren Freunden, die den ganzen Tag über treu ergeben auf sie gewartet hatten. Dann zog sie die beiden schweigend zu sich ins Bett, gab ihnen einen flüchtigen Kuss bevor sie selbst bis zum Morgengrauen unter ihrer Bettdecke verschwand. Alleine mit ihrem warmen Atem und der weichen Begrenzung eines Plumeaus und im Wissen um die Nähe der beiden, dem Elefanten aus tiefgrauem Plüsch und der kleinen Frotteemaus in pink, die unverrückbar an ihrer Seite blieben. Für immer!
Liebe anna, welch liebevoll und detailreich geschriebene Charakterstudie, eines eigentlich anonymen und stillen Menschen im Großstadtdschungel. Auch ich finde es sehr gelungen. Liebe Grüße der Sanderling
herzlichen Dank für eure begeisterten Kommentare. Diese Geschichte liebe ich ganz besonders und, lieber Thomas, ich habe sie bewusst so vage gehalten und dem Café keinen Namen gegeben, weil Fräulein Anders selbst ein bisschen wie Nebel wirkt. Nur der Schluss, der sollte dann so konkret wie möglich werden, da es schließlich um ihre Freunde ging.
die provisorischen Tische aus "aufgestapelten weißen Bierkisten mit Auflage eines schlichten Holzbrettes" erzeugen bei mir eine sehr konkrete Vorstellung des Cafes.
Es ist das Lieblingscafé. Ich dachte deshalb, man könnte es noch mehr nutzten, um den Carter zu versinnbildlichten. Das muss aber nicht sein, nur eine Idee.
Liebe anna, deine Geschichte gefällt mir sehr. Du beschreibst gut diese Frau Anders mit ihrer selbst gewählten Einsamkeit, die nur mit dem Elefanten und der Maus geteilt wird. Diese Frau ist zwar unter Menschen, kann und möchte sich Diesen aber nicht mitteilen. Ich denke für sie, ist ihr Leben so in Ordnung.
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