Mariechen
(aus einer entschwundenen Welt)



Mariechen kommt mit zwei Freundinnen aus dem Schulhof in der Weidengasse. Heute gibt es wegen der schwülen Wärme hitzefrei.
Die drei Freundinnen laufen kichernd nebeneinander her, den offenen Rinnstein entlang. Der Umweg über die Neustadt lohnte sich immer. Die Drei mit ihren Ranzen, den knielangen Röckchen, den Kittelschürzen und zierlichen Strohhüten streben dem Kreuzplatz zu. Weiter geht’s über die enge Mäusburg, den stark belebten Markplatz am Rathaus vorbei, über den Kirchen- und Lindenplatz, durch die Walltorstraße, die Braugasse, Richtung Justizpalast an der Ostanlage.

Man begegnet auf diesem Weg, besonders an sonnigen Markttagen wie heute, Krethi und Plethi. Vor allem einfaches Volk steht in Gruppen um die Marktfrauen herum und feilscht. Nicht nur Hausfrauen, sondern auch Hausdiener, Dienstmädchen oder Zugehfrauen sind hier unterwegs und kaufen zweimal die Woche günstig ein, was die Dörfer im Umkreis der oberhessischen Provinzialhauptstadt zu bieten haben.

Marktfrauen mit gewaltigen Röcken, die sich aus vielen Schichten aufbauen, mit hochgesteckten, dünnen Haarkränzchen, die von eingesteckten Kämmen bekrönt werden, stemmten ihre Arme in die kräftigen Hüften, wodurch sie noch imposanter wirken. Manche stehen zwischen ihren noch halb gefüllten Körben, andere kauern auf dem Boden und ruhen sich aus, da sie schon alles verkauft haben. Ein stutzerhafter junger Herr mit Spazierstöckchen bleibt stehen und glotzt den Mädchen nach, beachtet aber eine Markfrau, die sich in einem Nebengässchen erleichtert, überhaupt nicht. Diese rafft ihre Röcke, hockt sich hin und lässt es einfach laufen, während sich eine Pfütze um sie herum bildet. Öffentliche Klos gibt es nicht, noch nicht einmal eine Kanalisation.



Als Mariechen und ihre Freundinnen auf dem Marktplatz ankommen sind sie überrascht über das dortige Gedränge. Hier kommt man heute kaum durch.Überall stehen dichtgedrängt Marktfrauen, die etwas verkaufen wollen; ein dunkles Meer aus Körben, Röcken, Schürzen und Kopftüchern. An den Trachten könnte man erkennen, woher sie kommen: vom Hüttenberg, aus Wetzlar, aus der Wetterau, vom Vogelsberg, dem hessischen Hinterland, aus Marburg oder von der Schwalm. Für die Kinder ist dieses Bild vertraut und verwirrend zugleich. Sie haben noch keine genaue Vorstellung von der regionalen Gliederung Hessens, da sie in der Schule im Fach Heimatkunde noch nicht so weit gekommen sind. Für sie ist Gießen der Nabel der Welt.



Die Drei bahnen sich mit Mühe einen Weg durch die Menge und erreichen einen ruhigeren Straßenabschnitt. Hier sitzen und stehen die Marktweiber in lockeren Gruppen oder kauern am Rande der Gosse. Man könnte hier etwas durchatmen, wenn da nicht die Winkel zwischen den Häusern wären. Aus ihnen dringt ein ätzender Gestank! Über ihnen kleben die Aborterker wie Schwalbennester. Auch sämtliche Abfälle landen in den Winkeln, die mehrfach im Jahr von Arbeitern mit Schlammeisen und Eimern entleert werden müssen.



Die zahlreichen, an Marktagen besonders häufigen, Fuhrwerke machen ebenfalls Dreck. Sie werden von Pferden oder Ochsen gezogen, die einfach alles fallen lassen. Die Kutscher und Lenker der Gespanne sind zwar eigentlich verpflichtet, die Kuhfladen und Pferdeäpfel einzusammeln, aber nicht alle halten sich daran. Mariechen, das nun allein unterwegs ist, da die Freundinnen abgebogen sind, stört sich nicht weiter daran. Als ihr am Kirchenplatz die kleine Margarethe freudig entgegenläuft, nimmt sie die Pferdeäpfel auf dem Kopfsteinpflaster überhaupt nicht wahr. Auch die korbtragende Bäuerin und der sich abbuckelnde Träger gehören für sie zum gewohnten Bild.

Lieber Karlheinz,
sehr ungewöhlich, eine Kurzgeschichte aus deiner Feder zu lesen! Ich nehme an, sie wird sogar fortgesetzt?
Die Geschichte dürfte im 16./17. J. angesiedelt sein. Knielange Röcke, Kittelschürzen und Strohhütchen sprechen dafür, beim Ranzen bin ich mir nicht ganz sicher. Der Stutzer mit Spazierstöckchen ist wahrscheinlich jünger, die Freipinklerin eher älter - ihre Kleidung und Haartracht sprechen dafür.
Wie auch immer, der Marktplatz und die Stimmung rundherum machen Spaß beim Lesen und ich freue mich auf Teil II .
Viele liebe Grüße auf deine Insel,
Heliane.

Liebe Heliane,

nein, dieser Text, bei dem es sich um eine Art Reportage handeln soll, will möglichst nüchtern und detailgenau die Verhältnisse im späten 19. Jahrhundert widerspiegeln. Hauptperson ist dabei das Mariechen, meine Großmutter, die gern und sehr viel aus ihrer Kindheit und Jugendzeit berichtete. Sie war bereits erblindet und ich war damals der einzig verfügbare Zuhörer.

Vielen Dank für deinen Kommentar und herzliche Grüße
Karlheinz

Lieber Carlino,
du überrascht mich mit dieser Geschichte. Sie ist, trotz des Versuchs der nüchternen Beschreibung, sehr lebendig geworden. Das ist schön, da auf diesem Weg der Leser selbst noch Farbe in's Spiel bringen muss, bzw. es mit Vergnügen tut.
Die Geschichte ist dir sehr gut gelungen. - Sie zu schreiben war vielleicht etwas ganz besonderes für dich. Mich erinnert sie an Biografie-Arbeit.
viele Grüße,
auch an Mariechen...
der Sanderling

Lieber Sanderling,

in der Tat ist das biografisch und es wird Zeit, das ich das an die nächsten Generationen weitergebe. Da meine Großmutter sehr viel erzählte, reicht mein Gedächtnis mittelbar bis in ihre Kindheit in den 90er Jahren des 19. Jahrhunderts zurück. Mittlerweile bin ich der Letzte, der das weitererzählen kann!

Mariechen, später wurde sie Ria genannt, grüßt zurück und freut sich, dass noch ein Stück Erinnerung von ihr und ihrer Welt bleibt.

Liebe Grüße aus Samothraki
Karlheinz

Liebe Gabi,

weil ich hier auf der Insel keinen voll funktionstüchtigen Computer habe und ich mit dem iPad zu wenig Erfahrung habe, ist es mir etwas misslungen. Jetzt, dank deiner kompetenten Hilfe, ist alles bestens! Ich fürchte nur, dass ich auch beim nächsten Versuch versage!

Ich bin Jahrgang 49 und habe die ersten Jahre mit meiner Großmutter zusammen gewohnt. Nach dem Krieg gab es, weil Gießen sehr stark zerstört war, zu wenig Wohnraum, so dass meine Eltern, ich, meine Oma und meine Tante in einer Mietwohnung wohnten. Die Enge war fast bedrohlich, da noch zwei ältere Damen einquartiert waren, alles ohne Bad, versteht sich! Aber für mich als Kleinkind war das normal, und es hatte den Effekt, dass man sich sehr nahe kommen musste!

Also, nochmal vielen herzlichen Dank für dein beherztes Eingreifen und viele Grüße aus Samothraki, wo es heut gegen Morgen zum ersten Mal nach Monaten leicht geregnet hat
Karlheinz

Lieber Karlheinz,
fein, dass es geklappt hat !
Ein ganz entzückendes Bildchen. Das Schwarz-Weiß macht es besonders aussagekräftig. Ist Mariechen dabei?
Herzliche Grüße aus Berlin, wo die noch wärmende, herbstliche Sonne die trockenen Wiesen vergoldet,
Heliane.

Liebe Heliane,

dieses Foto von 1890, das ich erst kürzlich entdeckt habe, gehört nicht zum Nachlass meiner Oma. Es ist auf jeden Fall unweit der damaligen Schule in Gießen entstanden und ich meine in dem blonden Mädchen rechts Mariechen zu erkennen. Altersmäßig und vom Typ her kommt das durchaus hin.

Nur wenige Fotos aus der Zeit zeigen belebte Straßenszenen, meist sind die Menschen wegen der damals üblichen langen Belichtungszeit verwackelt. Das erste authentische Kinderbild meiner Großmutter, das ich besitze, entstand ein paar Jahre später.

Herzliche Grüße aus Samothraki, wo der Regen leider schon wieder aufgehört hat
Karlheinz

Lieber Carlino,

es hat mir gut gefallen, deine historische Kurzgeschichte zu lesen.
Fast war ich dabeigewesen.
Das liebevolle Verweilen bei Kleinigkeiten ist es,
was den besonderen Reiz deiner Zeilen ausmacht.

Liebe Grüße aus Wetzlar

Michael

Lieber Michael,

vielen Dank fürs Lesen und deinen netten Kommentar, der mir zeigt, dass ich meine Intention einigermaßen erreicht habe. Genau das wollte ich, möglichst detailreich den fiktiven, an der damaligen Realität orientierten Schulweg von Mariechen nachzeichnen.

Herzlichen Dank und viele Grüße aus Samothraki
Karlheinz



Liebe Gabi,

erst einmal vielen herzlichen Dank für deine Geduld und Mühe! Ich hab das einfach nicht selbst geschafft, weil ich auf diesem Gebiet überhaupt keine Erfahrung habe. Nun ist es dank deiner Hilfe genau so, wie ich es wollte!

Also bitte nicht sauer sein, es war wirklich nicht meine Absicht, die Arbeit, die so etwas macht, auf dich abzuwälzen!

Also nochmals meinen Dank und ich versuche so was in Zukunft zu vermeiden...
Liebe Grüße aus Samothraki
Karlheinz