Der Uhrmacher

In unserer Stadt zog mich ein Uhrengeschäft immer wieder magisch an. Hier fand ich mich regelmäßig vor der Schaufensterscheibe ein und kam mir dabei vor, wie früher als kleiner Junge, der seine Nase im Dorf vor der Auslage des Spielzeuggeschäftes platt drückte. Meine Blicke ließ ich schweifen, von Zifferblatt zu Zifferblatt. -
Da lag die Taschenuhr, die mich an meinen Großvater mütterlicherseits erinnerte, der kriegsversehrt und wortkarg war, stets am Kopf des Tisches saß und was er sprach, das war Gesetzt. Doch eigentlich wurde “bei Tisch” nicht gesprochen, ein: "Komm Herr Jesus” ausgenommen.
Und nebenan die Sportchronographen, die mich sogleich in Meerestiefen zogen, wo ich dann atemlos den Haien und Muränen Aug in Aug begegnete. Ein Kompass lag dort auch, neben einem großen Jagdmesser; als wäre es nicht schwer genug, niemals zu wissen, was die Zeit, die einem bleibt, noch an Überraschungen bereit hält. Damals war mir nicht klar, wie gerade heute mir die Richtung meines Lebensweges unbestimmter denn je erscheint.
Der Sekundenzeiger einer roten Kinderuhr hing auf fünf vor zwölf, auch wenn es so schien, als wolle er doch immer wieder von alleine in das gleichmäßige Sekunden Metrum finden, er schaffte es aber nicht. - Sind Uhren bloß ein Abbild unserer Zeit und ebenso weit entfernt davon, makellos oder gar perfekt zu sein?
Zu meiner Überraschung sah ich auch ein Buch in dieser Auslage, es war aufgeschlagen und offenbar ein immer wiederkehrendes Buch, wo jedes Datum für den Leser auf einer Seite einen neuen, jährlich wiederkehrenden Text bereit hält.

So oft ich vor dem Fenster stand, offenbarte mir der jeweilige Text eine kleine Oase in meinem Kopf, die ich mir ausmalte, je nachdem, wie mich die Worte gerade inspirierten. Eines Tages ging ich durch die Ladentür, um den Uhrmachermeister nach dem Büchlein zu fragen. Er nahm es für mich aus dem Rahmen seiner Auslage, seine Augen schienen dabei aufzuleuchten. Ich erzählte ihm davon, wie gerne ich vor seinem Fenster stand, die Texte las und meinen angestoßenen Gedanken folgte. Ich kaufte keine Uhr. -
Mit den Jahren verschwand der Uhrmacher, samt des Büchleins, aus unserer Stadt.

Das ist alles schon recht lange her. Seit dieser Zeit aber steht auf dem Klavier zu Hause dieses kleine Büchlein. Ich lass es häufig ruhen, doch manchmal, wenn ich spiele, fällt mein Blick darauf. Oft bin ich erstaunt, wie viel Zeit schon wieder vergangen ist, wenn ich das alte, aufgeschlagene Datum sehe und den Text noch einmal lese. Dann nehme ich es zur Hand, blättere auf das aktuelle Datum, gönne mir einen Moment der scheinbar stillstehenden Zeit, wie damals vor dem Schaufenster und lese:

“Achte besonders auf den Zorn in dir. Wenn du ihn nährst, wirst du ihn nicht mehr beherrschen und er zerstört, was du an Friedvollem in dir und in deinen Beziehungen aufgebaut hast”.

Wie schön, dass ich diesen Uhrmacher kennen gelernt habe, denn Leben ist Begegnung.

© Sanderling