Sie hatten sich nichts mehr zu sagen. Nach nur 24 Monaten. Er hatte sie fasziniert, als er den Raum betrat. Mit seinen fragenden Blicken, seinem Flackern in den Augen, als würde er nach irgendetwas suchen, von dem er noch nicht im Ansatz wusste, was es sei.
Sie fiel ihm auf. Ihre Blässe schien den Salon zu erleuchten, als er ihn an einem Herbsttag betrat. In der Ecke saß sie, links hinten, auf einem mit grünem Samt bezogenen Louis Seize Stuhl. Wie ein scheues Reh blickte sie in die Runde als wollte sie sagen: „Warum haben Sie mich eigentlich eingeladen?“
Er konnte seinen Blick nicht von ihr abwenden, drei Monate später waren sie verheiratet. Er war immer noch auf der Suche, ihre Schüchternheit hatte sich etwas gelegt. Er gab ihr Halt.
Abends, wenn sie gemeinsam im Bett lagen, sie in ihrem hochgeschlossenen Nachtgewand aus Leinen, er ebenfalls im Nachthemd, flüsterten sie in die Dunkelheit ihre Gedanken. Das hielten sie beide gut aus, jeder von ihnen konnte sich ein Wort des anderen aus dem Raum greifen oder es verfliegen lassen. Sie hatten die Wahl, das war beiden wichtig. Und sie mussten sich nicht begegnen. Auch das war ihnen beiden wichtig.
Nach einem Jahr waren ihnen die Gedanken ausgegangen, die Köpfe schienen leer, die Dunkelheit blieb alleine zurück, das Flüstern versiegte. Das, was sie bewegte, war nicht mehr für den anderen bestimmt, denn inzwischen verunsicherten sie einander. Warum das so passiert war? Sie wussten beide keine Antwort auf die Frage, gaben sich höflich am Morgen die Hand und verschwanden aus dem Leben des anderen. Wortlos.
Diese kurze Episode entstand aus folgendem Schreibimpuls: aus zehn Postkarten aus dem Romantikmuseum in Frankfurt (fünf Männer und fünf Frauen) habe ich mir jeweils eine Männer- und eine Frauenpostkarte ausgesucht, nicht wissend um welche Personen es sich handelt. Dann sollte ich zehn Minuten lang über dieses Paar schreiben. Später - nach dem Vorlesen unserer Texte - wurden die Identitäten gelüftet. In meinem Falle handelte es sich um den jungen Ludwig van Beethoven und um Karoline von Günderode. Beide waren in ihren Leben nicht verheiratet gewesen, Karoline hat sich in jungen Jahren aus unglücklicher Liebe zu einem verheirateten Mann in Oestrich Winkel im Rheingau erdolcht.
Bei diesem Schreibimpuls fand ich es bemerkenswert, dass ich die Beziehungsprobleme beider Figuren intuitiv in meinem Text aufgegriffen habe...
seine sehr schöne Ultra-Kurzgeschichte hast du da komponiert. Vielleicht könnte man die Frage "Warum das so passiert war? Sie wussten beide keine Antwort auf die Frage," noch streichen, denn ist klar, dass es so ist, und direkt zum Schluss kommen.
Schade, dass man die beiden Postkraten nicht sehen kann. Bei Karoline von Günderode überrascht mich das "scheue Reh" etwas, aber vielleicht vermittelt die Postkarte da etwas Überraschendes.
deine Geschichte gefällt mir. Auch ihre Entstehung. Es spricht dafür, wieviel wir, bzw. hier explizit du, zwischen den Zeilen für Geschichten und Verbindungen aufspürst.
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