Poeten erspüren Dinge, die im Verborgenen ruhen, bzw. dem rationalen Denken nicht zugänglich sind, sie sind Schamanen ähnlich, deren Aufgabe es ist, die Schau der Gottheit, des Kosmos, oder des Seinsgrundes der Menschen zu offenbaren.
Die Äußerungen der Dichter werden zu Poesie, im Unterschied zum Lallen eines Besessenen, Orakels oder Berauschten, jedoch erst durch die Hinwendung zum Nächsten, zu einer Gruppe von Hörern, vielleicht sogar zur ganzen Menschheit, denen sie die geistige Schau wirksam vermitteln. Diese Vermittlung scheint sogar der schwierigere Teil des Unterfangens zu sein und kann nur durch das ernste Spiel mit der strengen Form gelingen.
Bisweilen wird behauptet, die Form beenge den Dichter, die Form müsse daher "frei" sein. Das Gegenteil ist wahr. Das Unsagbare der poetischen Schau ist nur durch die Ambivalenz der Metapher, bzw. einer zielgerichteten Folge von Metaphern, zu vermitteln, wobei sich die Metaphern nicht auf ein rational erklärbares Gleichnis reduzieren lassen. Die Form, der sich der Poet freiwillig unterwirft, ist das notwendige Mittel, mit dem diese Metaphern Gestalt annehmen können. "Das Gesetz nur kann uns Freiheit geben" sagte einst jemand, der sich damit auskannte.
Daraus ergibt sich auch, dass die poetische Ambivalenz nichts mit einer sogenannten Dunkelheit zu tun hat. Diese bisweilen von Rezensenten fälschlich gelobte Dunkelheit ist Beleg dafür, dass es nicht gelungen ist zur Metapher vorzudringen, d.h. dass die poetische Vermittlung fehlgeschlagen ist und nur das bereits erwähnte Lallen vorliegt.
In Poetiken werden die poetischen Formen beschrieben, es handelt sich dabei jedoch nur um Spielregeln, die jeder Poet erweitern kann und soll.
Ein großes Problem der Poesie der Moderne ist der Verlust der Gottheit, des Kosmos und des Seinsgrundes der Menschen. Die Schau des modernen Dichters geht deshalb zwangsläufig ins Leere. Bisweilen wird diese Leere hinter der interessanten Individualität des Poeten verborgen, aber so sehr sich diese auch aufbläht, zum Kosmos kann sie nicht werden. Ohne Schau verliert die Metapher ihre Bedeutung und das Spiel mit der Form wird überflüssig, was die Behauptung erklärlich macht, die Dichtung müsse von der Form befreit sein.
Ich glaube, die Moderne überbewertet das Chaos und übersieht die Bedeutung von den Strukturen universeller "Selbstorganisation", also etwas, was einst Kosmos genannt wurde. Deshalb denke ich, dass die Poesie die Modere durch- und überleben wird.
wieder einmal ein Text über Poesie der mich anspricht und Richtschnur ist. Danke dafür, dass du dir hier so oft diese Mühe machst. Die offenen Metaphern, die erst in der Form ihre Freiheit erlangen, sind etwas was mich nachdenken lässt. Bedeutet es auch, dass wir selbst beim Verfassen auf die sich entwickelnde Kraft der Bilder im Leser ausgehen dürfen/können? Oder wie klar und zielgerichtet sollte deren Auswahl stattfinden?
Deine Aussagen zur Form möchte ich unterstreichen. Es ist auch für mich der Rahmen, der Inspiration und Reduziertheit der Sprache auf einen höheren Wesenskern erst ermöglicht. Dann bin ich wohl auch bei der kosmischen Ebene, mit der ich mich offengesagt noch etwas schwer tue, zumindest in der theoretischen Diskussion.
deine Thesen zur Poesie sind sehr interessant und regen mich wie immer zum Nachdenken an. Doch woher nimmst du die Gewissheit dieses Satzes: " Ein großes Problem der Poesie der Moderne ist der Verlust der Gottheit, des Kosmos und des Seinsgrundes der Menschen." Woran machst du den Verlust der Gottheit, des Kosmos und des Seinsgrundes bei der freien Lyrik - ich nehme an, das verstehst du unter "Moderne" - fest?
Wenn ich mir zum Beispiel ein Gedicht von Rose Ausländer oder Hilde Domin anschaue, so kann ich mitnichten diesen Verlust spüren.
So vermute ich, dass du eine bestimmte Form von Lyrik meinst, die den Dichter*in selbst in den Vordergrund stellt ohne Bezug auf das große Ganze zu nehmen, aber bitte nenne mir doch mal ein Beispiel für deine These. Wann merkst du diesen Verlust? Es kann doch nur der Dichter*in selbst sagen, was er/sie zum Zeitpunkt des Schreibens empfunden hat. Können wir ihm/ihr das als Leser*in absprechen? Dürfen wir das überhaupt? Ich finde, dass es in deinem Text ganz viel um Begriffe geht, die einer klaren Definition bedürfen, damit wir vielleicht alle die Chance haben, das hinter dem Wort zu erkennen, was du meinst. Und mir ist natürlich auch vollkommen klar, dass in so einem knappen Text nicht die Grundzüge der Poesie allumfassend behandelt werden können. Wann Poesie zur Poesie wird und wann es sich nur um Äußerungen handelt, habe ich jedenfalls immer noch nicht ergründet, denn auch im Alltag sprechen wir viel in Bildern, sind wir deshalb alle Poeten*innen?
Vielen Dank für den Austausch, er bedeutet mir viel!
Mein Text ist wahrscheinlich kaum zu verstehen, denn es ist eigentlich eine Notiz, die für mich ein Résumé vieler Gedanken ist. Ich habe ihn gerade nochmals gelesen und finde die Sprache sehr hart. Das ist vielleicht wegen seiner Kürze so.
Vielleicht hätte ich stärker betonen müssen, dass es mir immer um die Poesie als gesellschaftlich wirkende Kraft geht, etwa in dem Sinne, wie es Friedrich Schiller in seinem Gedicht "Die Künstler" ausdrückt oder Percy Bysshe Shelley in "Defense of Poetry".
Vor diesem Hintergrund ist "der Verlust der Gottheit, des Kosmos und des Seinsgrundes der Menschen", wobei es sich ja um nichts anderes als die geläufige Definition "der Moderne" handelt, meiner Meinung der entscheidende Punkt. Der Poesie als gesellschaftlich wirkender Kraft wurde dadurch der Boden entzogen und den Poeten blieb nichts anderes übrig, als einen Ersatz-Kosmos in ihrem Individuum zu finden oder zu erschaffen. Das ist schön, aber ein Homer oder ein Dante, oder dass, was Shelley beschreibt und Schiller vom Künstler fordert, ist so nicht möglich. Nebenbei bemerkt, das ist meiner Meinung nach der Grund, warum Künstler heute Schillers Anspruch als "hoffnungslos idealistische" abtun, obwohl Schiller ein glasklarer Realist war, der das Kommende vorausgeahnt hat. Es ist jedoch nicht die "Schuld" der heutigen Künstler, sondern eher Verzweiflung.
Ich möchte moderne Dichter nicht herabsetzten, im Gegenteil, ich leide an der unpoetischen Welt, in der sie leben, und ich freue mich über jede Perle, die ich finde, weil sie vielleicht einen Schimmer bewahrt, der irgendwann, wenn sich die Muschel öffnen kann, mit einem neuen Schein hervortritt. Und ich glaube, dass es ein Übel für alle ist, wenn die Poesie ihrer gesellschaftlichen Kraft beraubt bleibt und nur in Nischen gedeihen kann.
Das klingt vielleicht etwas düster, aber ich bin nicht pessimistisch und habe ja in vielen kleinen unbedeutenden Gedichtlein meine unerschütterliche Haltung gezeigt.
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