Gedankenende
Lyrische Szenen über die Alzheimer-Demenz

„Morgen können wir´s nicht mehr,
darum lasst uns heute leben.“

Diese Verse beschließen Schillers Gedicht: „Das Siegesfest“, normalerweise
werden diese Zeilen in geselliger Runde zitiert. Sie besagen nichts anderes,
wir sollten im Heute leben, den Augenblick genießen und nicht ständig nur
an das Morgen denken. Denn sehr schnell kann uns Ungemach einholen,
offenstehende Dinge und Zwischenmenschlichkeiten lassen sich plötzlich
nicht mehr regeln oder bleiben sogar unerledigt im Raum stehen.

Schillers Zitat könnte als Leitspruch sowie als Mahnung für einen gesunden
Alterungsprozess stehen, den man selbst in den Händen hält und maßgeblich
mitgestalten kann. Altwerden ist somit eine grundsätzliche Einstellung zum
Leben, sich einerseits den Altersveränderungen anzupassen, andererseits
so wie man sich über ein Leben immer mehr intellektuell entfaltet hat, sich
dann auch wieder zurückzunehmen, das Geben mit Freude immer mehr in
den Mittelpunkt des Lebens zu stellen.

In meinem vorliegenden Gedichtzyklus möchte ich sie nicht im einzelnen über
die diagnostischen und therapeutischen Aspekte der Alzheimer-Demenz langweilen.
Es ist mir viel wichtiger, als Heilpraktiker und als Altenpfleger die zwischenmensch-
lichen Ebenen zu betrachten, damit sie sich als Angehöriger oder unmittelbar
Betroffener reflektieren können.

Jörg Kellermann


Begegnung mit mir

Wie lange
bleibt mir noch
bis ich verblöde
5 Jahre
6 Jahre
wenn ich Glück habe
vielleicht
sind es 7

Glück

Das Glück ist eine Kakerlake
im Licht verschwindet sie
wie meine Bilder
sich verlieren
Tag für Tag
bis ich
umnachtet
sterbe


JengaTurm

Alzheimer
ist ein JengaTurm

Stein für Stein
ziehst du aus dem Turm
legst ihn oben auf

Jedes Klötzchen
war ein Teil von dir

Dort klafft
ein schwarzes Loch

Antimaterie

Lange
versuchst du dich
im Gleichgewicht
zu halten

Doch eines Tages
wird deine Konstruktion
so instabil
bis dein erdachtes
Lebensgebäude
auseinanderbricht

Dann hast du das Spiel
verloren

Eine Revanche
die hast du
nicht


Gedankenende

Ich bin mir fremd
heimatlos
in den Gezeiten

Ich bin mir fremd
ruhelos
unsortiert im Kopf

Ich bin mir fremd
grenzenlos
entgleist mein Sein

Ich bin mir fremd
hoffnungslos
dem Leben entrissen


Diagnose

Der Doktor sagt ich bin dement.
Ich hab´s im Duden nachgeschaut,
ich leide unter Geistesschwäche.

Wie kann er denn nur so was sagen,
ich war beim Test so aufgeregt
und all die dummen Fragen.

Bald werden meine Nachbarn reden,
ich bin nicht mehr ganz richtig,
ich verwechsle ihre Namen.

Was werden meine Kinder sagen,
muss ich jetzt ins Pflegeheim,
werden sie mich auch besuchen?


Mama

Mama
ich bin dein Kind
ich bin schon groß
erkennst du mich
nicht mehr

Papa
ist nicht mehr
seit Jahren ist er tot
er kommt nicht mehr
nach Hause

Mama
es tut mir weh
wenn du so sprichst
wenn ich deine Augen sehe
was ist von dir geblieben
Mama


Wie ein kleines Kind

Wie in kleines Kind bist du Papa
Was hast du dir dabei gedacht

Das Salz gehört doch auf das Ei
der Zucker kommt doch in den Tee

Hörst du mir denn gar nicht zu
kommt es denn bei dir nicht an

Sitzt du denn auf beiden Ohren
Hallo Papa - sieh mich doch mal an

Was ist nur mit dir los Papa
erkennst du mich nicht mehr


Stufen

Es ist wie
auf einer Treppe
Stufe um Stufe
gehst du runter
immer weiter
nach unten
bis zum Keller

Mit viel Glück
macht das Vergessen
auf einem Absatz
eine kleine Pause


Hinten abgestellt

Du fragst
wie ich mich fühle

Dein Schatten
geht an mir vorbei

Du machst die Nacht
zum Tag

Ich weiß es nicht
ich funktioniere

Manchmal
schlägst du auch

Wenn ich weine
stehst du neben dir

Du fragst
wie ich mich fühle

Hinten abgestellt
einsam und allein


An guten Tagen

An guten Tagen
wenn er
mit mir
in ganzen Sätzen
spricht
unerwartet
sagt

Ich liebe Dich!

An guten Tagen
wenn er
mich auch
beim Namen nennt
und nicht
der Sohn
zu seiner Mutter
spricht

An guten Tagen
habe ich
die vage Hoffnung
dass alles
wieder
wie früher
werden
kann


Nimm deine Hände weg

Ich nehme diese Pillen nicht!
Willst du mich vergiften?
Nimm deine Hände weg,
fass mich ja nicht an!

Die Zähne sollen aus dem Mund,
wie soll denn das nur gehen?
Nimm deine Hände weg,
die bleiben alle drin!

Ich gehe nicht ins Bett,
was denkst du dir dabei?
Nimm deine Hände weg,
dass bestimme ich noch ganz allein!

Warum ziehst du mir die Hose aus?
Du hast es aber nötig.
Nimm deine Hände weg,
ich sage alles meinen Mann.

Was machst du bei mir dort herum?
Ich ziehe keine Windeln an!
Nimm deine Hände weg,
du altes Schwein!

Was, ich soll jetzt schlafen,
kommst du morgen wieder
junger Mann?

Gute Nacht
und komm gut Heim!
Bis dann!


Angst

Eine Hand
unterbricht
für einen Augenblick
diese
unfassbare
Angst

Einen Moment
wärmende Stille
Vertrauen
Geborgenheit
sanftes Rauschen
im leeren Raum

Lass mich
nicht los
nicht jetzt
es fühlt sich
kindlich fein

Halte mich
erwärmende
Hand

© Jörg Kellermann 2015

Lieber Jorsch,
jetzt hat dein Alzheimer-Zyklus einen sehr schönen Platz gefunden. Das Vorwort hält die Einzelgedichte zusammen und erklärt dein Anliegen bestens.
Die Gedichte sind traurig, erschütternd und regen zum Nachdenken an. Es ist sicher nie zu früh, sich mit dieser Erkrankung zu beschäftigen.
Ich grüße dich herzlich,
Heliane.

Lieber Jorsch,
deine lyrischen Szenen bewegen mich und ich las sie allesamt mit großem Interesse. Ist man slbst Angehöriger, so werden Bilder wachgerufend.
Ich habe mir an dir ein Beispiel genommen und meine Erfahrung in den Text: "Märchenstunde" einfließen lassen.
Vielen Dank an dich für deine Mühe und den Dienst den du damit Menschen mit einer Demenz geleistet hast. Denn es geht immer um Verständigen und Verständnis. Vielleicht wird der eine oder andere Moment für erkrankte dann etwas leichter.
herzliche Grüße,
der Sanderling

Hallo Jorsch,
Ich habe Deine Verse aufmerksam gelesen. Du hast die Dramatik dargestellt, wenn Gewohntes nicht mehr greift und man es nicht begreifen kann. Gerade für Angehörige ist es schwer wenn die Rollen sich vertauschen.
Aber ich kenne auch die Dementengruppe im Altenheim und da geht es teilweise sehr fröhlich zu und unbedarft. Und Lieder kennen sie alle noch und da wird laut mitgesungen. Natürlich kommt es auch immer auf die Pfleger und Pflegerinnen, die Betreuungspersonen und die Ehrenamtlichen dabei an.
Was ich schlimm finde ist, das wir uns alle sehr große Sorgen machen, dass es uns treffen könnte.
Die Angst davor hält auch oft davon ab in die Altenheime zu gehen und ein bisschen Freude zu bringen.
Liebe Grüße,
Heidi

lieber Jorsch
ich bin wieder einmal begeistert von der Treffsicherheit in Deinen Gedichten.
Ich möchte noch einmal der Klarheit wegen und weil Heidi von Ängsten spricht betonen, Demenz ist nicht Alzheimer. Alzheimer ist eine ganz spezielle Form der Demenz, aber mit 60 % die häufigste.
Nun können Gedichte immer nur Ausschnitte zeigen aus Lebensprozessen. Du hast sie gut getroffen. Vieleicht überlegst Du Dir noch 1 oder 2 Gedichte in der diese Menschen in ihrer eigenen Welt abgetaucht sind. Oft haben sie dort richtig glückliche Momente. Ein wenig fehlen sie mir hier.
herzlich Ilona

Lieber Jorsch, du hast es gut beschrieben, was ist... wenn nichts mehr bleibt, das Ende der Gedanken. Erschreckend aber nicht umkehrbar. Noch Nicht!
LG Heike