Es regnet in Strömen, als ich die Klinik verlasse. Ich bin unterwegs, um einen Mann zu verabschieden, den ich kaum kannte und der mir doch nah stand. Viele haben ihn belächelt – wenn er ohne Punkt und Komma einen Bogen schlug von Bach bis Mesopotamien, Marx und Jandl eingeschlossen und dies alles nur in zehn Minuten bei einem einzigen Teller Nudeln mit Gulasch. Viele spotteten über seine Sorge vor der Jurisprudenz, über seine Sorge, einen Fehler zu begehen und nicht den bürokratischen Anforderungen der Verwaltung zu genügen. Viele verließen den Raum, wenn er kam, weil sie wahnsinnig wurden bei seinen Redeorgien. „Du zu Mensch gewordene Geräuschkulisse," pflaumten sie ihn an, doch er ließ sich davon nicht abhalten.
Ich habe ihm gerne zugehört, spürte, wie seine Gedanken davongaloppierten, viel zu schnell für den Mund, der noch Zeit brauchte, um die Worte zu formulieren. Ich liebte seine Sprachgewandtheit, die Art und Weise, wie er Silben aufeinanderstapeln konnte wie fragile Worttürmchen, die sich erstaunlicherweise gegenseitig hielten und nicht in sich zusammenfielen. Ich liebte seine Satzgeschwindigkeit, seine Wendigkeit und sogar seine Gedankensprünge, denen ich nicht immer folgen konnte. Und ich liebte seinen Humor, seine Art, sich selbst auf die Schippe nehmen zu können.
„Anna, laut Statistik habe ich noch achtzehn Monate.“ Wir lehnten die Köpfe gegeneinander. „Oli, Statistik ist Statistik, das weißt du doch". Wir blickten beide stumm in die Ferne.
Sechzehn Monate später stehen wir an seinem Grab. Der Himmel ist wolkenverhangen und trüb, der Regen inzwischen versiegt. Seine Kinder haben beim Gedenkgottesdienst musiziert und ein Gedicht vorgetragen: „… Geist soll lodern/ Seele sich dehnen/ Des Herzens Woge / Soll weiter rauschen und klingen/ Der Leib soll ruhen.“ Sein 92jähriger Vater steht kerzengerade, regungslos, vor dem Sarg, um seinem einzigen Kind ein letztes Mal Lebe Wohl zu sagen.
Die vier Töchter lassen Luftballons steigen. Weiße Herzen mit langen schwarzen Schnüren, die verloren in der Luft baumeln. Coldplay singt aus einer Box „Daddy, where are you…“ Unsere Blicke wandern himmelwärts und plötzlich geschieht das Unfassbare. Die Wolkendecke reißt auf und durch ein Loch fallen Sonnenstrahlen – zunächst direkt auf den Sarg und dann auf uns.
Es sind die Wunder, die uns trösten, flüstere ich und umarme die Witwe.
Liebe anna Eine anrührende Geschichte über das Abschiednehmen von einem besonderen Menschen. Du schilderst ihn so , das ich mich nicht entscheiden kann ob ich ihn wohl zu Lebzeiten gemocht hätte oder wie scheinbar andere auch auf seine ausschweifenden Reden verzichten könnte. Aber ich kenne genau diese Menschen und du hast ihn richtig richtig gut beschrieben. Besonders mag ich dieses kleine Wunder. In diesem Augenblick ist es allen ein Zeichen von wo auch immer. Dieses Wunder spendet Trost und ich bin überzeugt es setzt sich wie ein Sonnenstrahl in unser Herz. Wirklich ein schöner Nachruf Liebe Grüße Ilona
berührt mich. Vielleicht hat er sich ja mit denen die ihm zuhören wollten in den hölzernen Pavillon im Kräutergarten getroffen. Mit so einer Diagnose geht natürlich jeder anders um, mir war nie sonderlich zum Reden zumute, aber ich habe ja auch keinen solchen Zeitdruck. Vielleicht würde ich dann auch noch alles was mich beschäftigt aussprechen, damit es wenigstens gesagt ist.
Packende Bilder die viel zu klar sind, als dass sie nur der Fantasie entspringen, jedenfalls würde mich das sehr überraschen.
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