Rachitis-Prophylaxe

Es ist Winter in Berlin. Winter 1969. Vor der Haustür stapeln sich die Schneemassen und wir haben es geschafft, einen Iglu aus eigener Kraft zu bauen, der über viele Tage stehen bleibt und nicht schmilzt.

„Winterzeit ist Zeit für Rachitis – Prophylaxe“ sagte meine Mutter und was meine Mutter sagt, ist Gesetz. Winter ist die Zeit für samstägliche Lebertrankapseln, die über den Frühstücksteller kullern, Zeit für den täglichen Esslöffel Sanostol aus der großen bräunlichen Flasche mit dem orangefarbenen Aufdruck und vor allem Zeit für die wöchentliche Sonnendusche, die uns vor verbogenen Beinen und eingefallenen Brustkörben retten soll.

Dafür hatten unsere Mutter eigens ein Gerät angeschafft, dass in etwa so groß war wie ein Laptop und in der Mulde seines Deckels zwei weiße Röhren enthielt. Ferner gab es einen Schalter, um zwischen Infra- Rot- Licht – zur Bekämpfung von Schnupfen neben dem Kamilledampfbad unter dem Frotteehandtuch die einzig bewährte Maßnahme – oder UV -Licht hin und her wechseln zu können.

Gesagt, getan! Am Samstagabend mussten wir uns nach dem obligatorischen Wannenbad ca. 10 Minuten nackt in dem bis oben gekachelten Badezimmer mit den hohen Decken aufhalten und herumhüpfen, nachdem unsere Mutter den UV Betrieb eingeschaltet hatte. Wir bekamen kleine runde Brille mit Gummizug aufgesetzt, die sich rund um die Augen festsaugten und so jede schädliche Strahlung dort verhinderte. „Springt ja viel herum, damit die Strahlen überall an euren Körper gelangen und wehe ihr setzt die Brille ab!“
Heute frage ich mich, wie diese kleinen Röhren, auf einem Schrank, etwa in Höhe von 3 m plaziert (nur durch das Besteigen des Klodeckels erreichbar) auch nur annähernd etwas bei zwei Unruhegeistern in einem 8 qm großen Raum bewirken konnten. Doch der Glaube zählt und versetzt nicht nur Berge.

Bis heute rieche ich diesen seltsamen Geruch der UV Röhren, ein Gemisch aus Staub und etwas Undefinierbarem, das meine Brust enger werden ließ, fühle ich den Druck am Augenrand von der Brille und die Angst vor Erblindung durch UV- Strahlen. Doch wer weiß: vielleicht sind unsere Beine dank des Wintereinsatzes unserer Mutter bis heute kerzengerade geblieben.

© anna a.