Was ist eigentlich ein Reim?

Über diese Frage habe ich schon oft nachgedacht, und dabei entstand das folgende kleine Gedicht. Es ist ein Experiment, dessen Hintergrund ich hier erklären möchte.


Vernagelt

Ich kann mir keinen rechten Reim drauf machen,
auf deine Schleierblicke und die Dinge,
die du, wie nebenbei, so mit mir treibst.
Du sagsts zwar, dass du ewig treu mir bist,
doch merke ich, ich geh dir auf den Leim
und finde einfach nicht den rechten Clou.


Mein Experiment geht von der Annahme aus, dass wir unbewusst bestimmte Reime im Kopf haben. Das ist nichts Besonderes, denn die Worte unserer Sprach sind durch Wortstamm und Wortentwicklung, Anfangslaut (Hier und Heute, Sonne und Strand, Wind und Wetter) sowie inhaltliche Assoziationen und grammatische "Regeln" in einem uns unbewussten Netz verbunden. Ein Wort klingt nie allein, sondern immer schwingt eine Vielzahl andere Worte mit. Dieses "Mitschwingen" der Worte nutzen Dichter, um ihre Poesie in den Ohren und Herzen der Hörer erklingen zu lassen.

Konkret zu meinem Experiment. Es spielt mit dem Ausdruck, "sich einen Reim auf etwas machen", welcher ja schon ausdrückt, dass der Reim etwas Ähnliches ist, wie eine passende Erklärung, welche eine Sache "rund" macht.

Wenn man in dem Gedicht "Sachen" statt "Dinge", "bleibst" statt "bist" und "Reim" statt "Clou" an die entsprechenden Zeilenenden setzt, stünden die "passenden" Endreime. Dass diese jedoch gerade nicht auftreten, erzeugt eine gewisse Spannung beim Leser, der das Unverständnis des Herrn, der sich "keinen Reim" auf seine Dame machen kann, vermittelt – jedenfalls hoffe ich, dass das so funktioniert. Ich empfinde jedenfalls weniger Spannung, wenn ich den Text so lese:

Ich kann mir keinen rechten Reim drauf machen,
auf deine Schleierblicke und die Sachen,
die du, wie nebenbei, so mit mir treibst.
Du sagsts zwar, dass du ewig treu mir bleibst,
doch merke ich, ich geh dir auf den Leim
und finde einfach nicht den rechten Reim.

Der Hintergrund: Die Frage nach dem Reim.

Ein Schlüsselerlebnis beim Erkunden des Reimes war für mich eine Stelle in Johann Wolfgang Goethes Faust – ich habe in meiner Jugend ein Jahr lang fast nichts anderes gemacht als Faust zu verschlingen. Goethe dichtete in seiner "Sturm und Drang" Jugend reimlos, und zwar angeregt durch die Übernahme der reimlosen griechischen Formen in die deutsche Poesie. Er kehrte jedoch bald zum Reim zurück. Warum erläutert eine herrliche Szene in Faust, in der die schöne Helena erstmals mit der abendländischen Poesie in Berührung kommt. Sie ist erstaunt und verwundert darüber, wie sich zu jeweils einem Wort im Ohr ein anderes fügt und ihm "liebkost", wie sie sagt. Worauf Faust antwortet:
Gefällt dir schon die Sprechart unsrer Völker,
O so gewiss entzückt auch der Gesang,
Befriedigt Ohr und Sinn im tiefsten Grunde.

Die Offenbarung für mich waren die Worte "Ohr und Sinn"! Während Helena spontan das Liebkosen des Reims im Ohr fühlt, fügt der Kenner Faust das entscheidende "und Sinn" hinzu. Der Reim ist eben nicht nur Klang, sondern auch, wenn es ein wirklicher Reim ist, sinnhaft, wie es in den Ausdruck "sich einen Reim darauf machen" anklingt.

Deswegen sind im Grunde Reim mit unbedeutenden Worten, welche z.B. von Rainer Maria Rilke oft bildet, keine wirklichen Reime, sondern nur Klingreime. Solche Endreim sind durchaus erlaubt, vor allem in lustigen Gedichten, sie sollten jedoch den Blick für den wirklichen Reim der "Ohr und Sinn" befriedigt, nicht verstellen.

Ich füge nun an – weil es so schön ist – wie der Dialog zwischen Helena und Faust weitergeht.

Helena:
So sage denn, wie sprech' ich auch so schön?
Faust:
Das ist gar leicht, es muss von Herzen gehn.
Und wenn die Brust von Sehnsucht überfließt,
Man sieht sich um und fragt –
Helena:
Wer mitgenießt.
Faust:
Nun schaut der Geist nicht vorwärts, nicht zurück,
Die Gegenwart allein –
Helena:
ist unser Glück.
Faust:
Schatz ist sie, Hochgewinn, Besitz und Pfand;
Bestätigung, wer gibt sie? –
Helena:
Meine Hand.

Reim: Beschränkung oder Beschenkung

Es gibt eine 1960 gegründete Dichtergruppe namens "Oulipo", welche durch selbstgewählte sprachliche Beschränkungen, z.B. dass in einem Text ein bestimmter Buchstabe nicht vorkommen darf, neuen Ausdruckmöglichkeiten zu finden sucht, das Ziel ist "Spracherweiterung durch formale Zwänge". Ich finde dieses Projekt insofern interessant, als dem Reim von einigen Modernen vorgeworfen wird, er "beschränke ihre kreativen Ausdrucksmöglichkeiten". Wenn man dem Gedanken von Oulipo folgt, ist vielleicht gerade das Gegenteil der Fall. Diesem Gedanken nachzugehen, ist jedenfalls fruchtbarer, als sich im Disput "Reim muss sein" versus "Reim ist out" zu ergehen. Wobei man den Argumenten solcher Dispute meist anmerkt, dass ein tieferes Verständnis des Reimes fehlt.

Für mich ist der Reim eher anregend und mir ist es oft passiert, dass ein Text, den ich zuerst reimlos niederschrieb, nach einer Weile "wie von selbst" Reime bildete und dabei harmonischer und tiefer wurde. Ich denke, das liegt an "Ohr und Sinn".


© Ralf Schauerhammer