Parlare

Sprich zu mir, du alter Baum,
erzähl mir vom Schlagen der Nachtigallen,
vom rätschernden Ruf des Eichelhähers,
dem Späher der Bemoosten
und Wächter des Forstes.

Alter Baum, erzähl mir von rauschenden Röcken,
deren Säume sich im Unterholz verfingen,
wenn sie dir nähertreten wollten,
erzähl mir vom Tränenmeer und Liebesschwüren,
von der Verzweiflung der Ameisen,
die haufenlos geworden,
von den durchwurmten Verwerfungen
an deinem Fuße.

Eiche, mein, lass deine knorrigen Äste sprechen,
lass mich unter die aufgesprungene Borke linsen,
offenbare mir dein größtes Geheimnis
der Vergangen-Zeit.
Erzähl mir vom Vergehen und vom Werden,
vom Aufbäumen deiner Spitzen,
vom Aufbegehren deiner Zweige
an jenem blutheißen Tage.

Berichte mir Stunde um Stunde
vom Streunen der Schutzlosen,
die Obdach bei dir suchen
und fluchen über das Knacken der Gedanken,
von den leeren Knoten der Lebensmüden
und Todessehnenden,
von geritzten Namen,
die längst überwuchert.

Baum, oh Baum,
lass mich nisten in dem Gestrüpp unweit
deiner Jahresringe,
lass mich bereift den Anblick des Tages erleben,
der Suche des Eichhorns folgen,
dem gespannten Sprung eines
Luchses in der Dämmerung,
lass mich beim Anblick eines Regenbogens
vergehen und im Werden Deiner Geschichten
neu entstehen.

Liebe anna,

das gefällt mir sondergleichen! Besonders die vielen stimmigen Bilder, die aufkommen...

„Späher der Bemoosten“ solltest du dir patentieren lassen, obschon hier doch auch andere Bedeutungsebenen ins Spiel kommen könnten...

Ein kleines Meister*innen Werk will mir scheinen!

Herzliche Grüße aus Lüli mit dem Ausblick auf die letzten unbemerkten und daher nicht entfernten Moose auf marodem Mauerwerk

Karlheinz

Lieber Thomas, lieber Karlheinz,

Ich danke euch für eure Rückmeldungen. Die Tränenmeere werde ich gerne in die Einzahl versetzen, sie bekommen dadurch mehr Wucht. Als Titel habe ich mir “parlare” überlegt.

Das Gedicht entstand aus einem Guss, vielleicht fließt es deshalb so... ich danke euch allen an der Stelle noch einmal von Herzen, dass ihr euch auf mein Experiment eingelassen habt. Auch die Auseinandersetzung mit neueren Firmen bringt uns weiter, wie ich finde..

Österliche Grüße

anna a.

Liebe anna,
dein Parlando erzählt eine so bunte Geschichte, mit Zwischentönen die selbst wie kleine Filme sind, dass das gesamte Bild in leuchtenden Farben da steht und in mir nachwirkt. Ich schließe mich daher der Lobeshymne von Karl-Heinz und Thomas gerne an.

Ich habe viel Neues kennengelernt in diesen letzten drei Wochen. Mein eigenes Schreiben hat diese Aufgabe sehr bereichert. Danke dafür!
Liebe Grüße
der Sanderling

Lieber Sanderling,

Das freut mich riesig und das stimmt mich als musengärtnerin froh, denn geht es hier nicht auch um gegenseitigen Austausch und Inspiration? Vielen Dank für dein Lob, die inneren Bilder flossen beim Schreiben einfach so aus mir heraus.

Liebe Grüße

anna a.

Vielen Dank, liebe Gabi,

es freut mich, dass du Gedichten zunehmend etwas abgewinnen kannst. Gerade Balladen erzählen ja manchmal ganze Krimis...

Liebe Grüße!

anna a.