aus gegebenem Anlass wünsche ich mir für das nächste Mal ein modernes Gedicht - was auch immer ihr darunter versteht. Ich freue mich auf die Ergebnisse!
Nein, lieber Sanderling, Ralf und ich, wir hatten uns kürzlich im Forum über das Thema ausgetauscht…
Hier noch ein Beispiel-Gedicht:
Die nächtlichen Wanderzüge
Dies ist der Augenblick, in dem du die roten Beeren der Eberesche wiedersiehst, und am dunklen Himmel die Vögel beim nächtlichen Wanderzug.
Es bedrückt mich zu denken, dass die Toten sie nicht sehen – diese Dinge, die uns selbstverständlich sind, sie entschwinden.
Was wird die Seele dann tun, um sich zu trösten? Ich sage mir, vielleicht braucht sie diese Freuden nicht mehr; vielleicht ist es einfach genug, nicht zu sein, so schwer vorzustellen das auch ist.
(Aus: Averno. Gedichte. Aus dem Amerikanischen von Ulrike Draesner. Luchterhand Literaturverlag. München 2007)
Liebe Grüße
anna a.
und noch eins von Jan Wagner
giersch nicht zu unterschätzen: der giersch mit dem begehren schon im namen – darum die blüten, die so schwebend weiss sind, keusch wie ein tyrannentraum.
kehrt stets zurück wie eine alte schuld, schickt seine kassiber durchs dunkel unterm rasen, unterm feld, bis irgendwo erneut ein weisses wider-
standsnest emporschiesst, hinter der garage, beim knirschenden kies, der kirsche: giersch als schäumen, als gischt, der ohne ein geräusch
geschieht, bis hoch zum giebel kriecht, bis giersch schier überall spriesst, im ganzen garten giersch sich über giersch schiebt, ihn verschlingt mit nichts als giersch.
das Problem liegt in der sehr unscharfen Bestimmung von „modern“. Die Moderne ist ja schon seit über einem Jahrhundert vorbei, und hatte ihre Zeit Ende 19. Anfang 20. Jahrhundert . Ich zitiere mal eine Erklärung aus dem Internet:
Lyrik der Moderne
Typisch für die moderne Literatur ist die Großstadtlyrik. Sie war ein Gegenentwurf zu den romantischen Naturdarstellungen zuvor und thematisiert meist die negativen Erfahrungen des Individuums in der modernen Großstadt. Insgesamt ist die Großstadtlyrik eine poetische Antwort auf die Veränderungen durch die industrielle Revolution. Die Großstadtlyrik kennst du wahrscheinlich vor allem aus der Literaturepoche des Expressionismus (1905–1925). Ein Beispiel für Großstadtlyrik ist das expressionistische Gedicht "Städter" von Alfred Wolfenstein aus dem Jahr 1914:
Dicht wie Löcher eines Siebes stehn Fenster beieinander, drängend fassen Häuser sich so dicht an, daß die Straßen Grau geschwollen wie Gewürgte stehn….
Es veranschaulicht die trostlose Enge der Stadt. Ebenfalls aus dem Deutschunterricht bekannt könnte dir das Gedicht "Gott der Stadt" von Georg Heym sein. Es entstand im Jahr 1910 und fällt damit ebenfalls in die Zeit des Expressionismus, für den die Verstädterung und die damit empfundene Enthumanisierung des Menschen ein großes Thema war:
Auf einem Häuserblocke sitzt er breit. Die Winde lagern schwarz um seine Stirn. Er schaut voll Wut, wo fern in Einsamkeit Die letzten Häuser in das Land verirrn.
Stilistisch ist bei der modernen Lyrikvor allem das enge Zusammenspiel von Form und Aussage typisch. Die Gedichte sind so konzipiert, dass die Aussage nur in Kombination mit der Form den gewünschten Sinn ergibt. Außerdem wurden häufig Chiffren verwendet. Das sind verschlüsselte Metaphern. Anders als das Symbol, das in der Regel allgemein bekannt ist (z.B. die Taube als Symbol des Friedens), muss eine Chiffre aus dem Zusammenhang des Gedichtes erschlossen werden. Chiffren sind somit nicht beim ersten Lesen verständlich. Ein Beispiel, das zwar nicht aus der Epoche der Moderne stammt, aber eine sehr bekannte Chiffre ist, ist die "Schwarze Milch der Frühe" aus dem Gedicht "Die Todesfuge"(1945) von Paul Celan.
Zitatende
Die Wirklichkeit ist jedoch komplex und nicht alle Dichter in dieser Zeit und danach haben so geschrieben.
Ich denke es ist eine Entwicklung außerhalb der Literatur, welche die „Moderne“ charakterisiert, nämlich der Verlust des Glaubens an eine Ordnung der Welt und somit auch der Gesellschaft. Stichwort: Jacques Monod, Zufall und Notwendigkeit / Friedrich Nietzsche, Übermensch. Dichter waren vorher „Schamanen“ oder „Priester“, welche in ihrer Poesie die Verbindung zu dieser rein verstandesmäßigen nicht zu verstehenden Ordnung herstellten. Die poetischen Formen sind nur eine Konsequenz dieser „Aufgabe“. Was bleibt dem Dichter in dieser Moderne? Er bleibt sich nur selbst in seiner Individualität, die ihn jedoch von seinen Hörern unterscheidet, und es bleibt die Klage, Wut, oder der Triumph über den Verlust der „alten“ Ordnung. Das müsste sich in einer formlosen Form widerspiegeln, die es jedoch nicht gibt, weshalb die Aufgabe der Negation der alten Formen bleibt, welche diese jedoch implizit bestätigt, indem sie davon abhängig ist.
Eine andere Entwicklung verlief parallel, nämlich die Visualisierung. Das Gesehene wurde immer wichtiger, das nur mit den Augen stumm Gelesene verdrängte das Gehörte und Gesprochene. Die Folge ist eine Augenlyrik, Textanordnungen, die akustisch gar nicht mehr wahrgenommen werden können. Diese boten sich als Ersatz für die „alten“ Formen an.
Die Wirklichkeit ist jedoch zum Glück komplex und das Gesagte ist nur eine Art Röntgenbild der Knochen.
was anderes habe ich auch nicht gefunden. Ich denke, Du solltest diesen Text in Wissenswertes stellen. Da es wahrscheinlich das einzige ist, was man als Hilfe für Heddas vagen Aufgabenwunsch nehmen kann. Es ist das 1 Mal, dass der MG sich mit der Moderne befasst, also brauche ich dann für die E-Werke etwas aussagekräftiges als Titel. Modernes Gedicht genügt in dem Fall nicht!
Guten Morgen, liebe Musengärtner und - gärtnerinnen,
den Titel meiner Aufgabe hatte ich bewusst so gewählt, weil ich endlich für mich einmal geklärt haben wollte, was "moderne Lyrik" ist. Immer wieder wird auch hier in diesem Forum darauf hingewiesen, dass ein Gedicht moderne Lyrik sei und immer wieder denke ich: "Hä, moderne Lyrik, das ist doch nicht etwa ein Genre, die ist doch ganz facettenreich."
Ich habe mir auch diesen Interneteintrag durchgelesen, den du zitiert hast, lieber Thomas, und entscheide mich jetzt für den Begriff Großstadtlyrik. Zusätzlich habe ich euch noch ein paar Merkmal "moderner Lyrik" herausgesucht, die euch vielleicht inspirieren können.
Moderne Merkmale:
- Starke Subjektivität der Aussage (ein lyrisches ICH spricht sich aus) - Eigentümlichkeit der Aussageweise (sprachliche Originalität) - Verdichtete Sprache (kühne Metaphern, Chiffren, Oxymoron, Sinn-Aufladung von Wörtern) - Klangqualität von Sprache (Assonanz, Alliteration, Anaphern, Vokalmotive) - andere Strukturmerkmale (Parallelismus) - Rhythmus statt Metrum - Sprache der Lyrik als Gegensprache zur Informations- und Alltagssprache - lyrisches Sprechen verweigert sich absichtsvoll dem raschen Konsum, d.h. dem schnellen Verstehen ('Hermetik') - Typographisches Erscheinungsbild (bedeutungshaltiger Zeilenbruch) (https://www.zum.de/Faecher/D/BW/gym/analyse/lyrik5.htm)
Literarische Themen der Moderne:
apokalyptische Endzeitstimmung individuelle Wahrnehmungen das Unterbewusste Dekadenz, Verfall und Tod Pessimismus Sprachkritik (https://abi.unicum.de/epochen/moderne)
Besonders das erste Merkmal, denke ich, ist wegweisend. Auch der Begriff Großstadtlyrik ist breit gefasst, ich könnte also auch einfach als Aufgabe stellen: Schreibt ein Gedicht über das Leben in einer Großstadt. Aber der Begriff Großstadtlyrik gefällt mir und erinnert mich nicht nur an Gottfried Benn, sondern auch an Mascha Kaléko.
Ich wünsche euch viel Spaß damit und freue mich immer wieder sehr, wenn wir hier im musengarten in die Diskussion kommen...
wenn ich es richtig verstehe, hast du die Aufgabe jetzt so formuliert: "Schreibt ein Gedicht über das Leben in einer Großstadt in der Form der 'Großstadtlyrik'." Ist das so?
um mich mit dem Thema etwas anzufreunden habe ich mir ein "Jahrbuch der Lyrik" zugelegt. Ich muss gestehen, dass ich beim Lesen der zeitgenössischen Gedichte häufig dachte: warum so?... was soll hier überhaupt ausgesagt werden? Dann lese ich in den obigen Beschreibungen z.B.: moderne Lyrik weigert sich häufig leicht verständlich zu sein. Aha, was ist der Gewinn hiervon? An die ewige Kleinschreibung, die ja vielleicht auch nur dem Ziel dient Texte schwer verständlich zu machen, kann ich mich leider auch nicht gewöhnen. - Ja, ich nörgel gerade etwas, aber eigentlich will ich mich doch anfreunden mit dem Thema. Mal sehen, vielleicht gelingt es mir ja noch.
es gibt zwei Gründe dafür "nicht leicht verständlich zu sein".
Ein Grund liegt darin, dass so tiefe Gedanken und Gefühle ausgedrückt werden, die nicht einfach zugänglich sind, sondern eine gewisse Beschäftigung verlangen. Das ist bei guter Poesie der Fall. Man erkennt das daran, dass der Autor, eben weil er weiß, was er dem Leser abverlangt, versucht, sich möglichst exakt und klar auszudrücken, um dem Leser auf diesem schweren Weg zu helfen.
Ein zweiter Grund besteht darin, originell und interessant zu wirken, d.h. relativ triviale Dinge bewusst auf eine möglichst individuelle und unverständliche Art zu präsentieren. Das findet man leider häufiger.
Wenn du einen Eindruck von Ersterem bekommen willst, ist es vielleicht gut, sich mit den Gedichten von Paul Celan zu beschäftigen, welche nach und nach klarer werden. Aber selbst so zu schreiben, das ist noch einmal eine andere Nummer.
Lieber Thomas, danke für deinen Hinweis auf Paul Celan, den ich noch nicht kannte. Beim Lesen seiner Gedichte, und der Kenntnis seiner Geschichte, bekomme ich eine Vorstellung von dem, was du oben im ersten Absatz gemeint hast. Danke!
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21.10.2024 20:58
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aber eigentlich will ich mich doch anfreunden mit dem Thema. 
Ingo Baumgartner • Zugriffe: 1063
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